Montag, 7. März 2005

Gesellschaft: Die Armen sind die Avantgarde

Gesellschaft
Die Armen sind die Avantgarde
Von Georg Diez


07. März 2005 Wenn die Frau aufblickt, dann sieht sie einen Raum mit grauem Teppich, Neonlicht und ein paar blinkenden Automaten. Wenn sie aufblickt, dann sieht sie die sechs anderen Menschen, die hier sitzen und auf etwas warten, auf das Geld oder das Glück oder sonstwas. Wenn sie aufblickt, dann sieht sie die kleine Plastikkuppel, unter der sich etwas entscheidet, das sie nie und nimmer Schicksal nennen würde.


Aber die Frau blickt nicht auf. Sie hat einen lila Pullover an, sie ist Mitte Fünfzig, neben ihr auf dem Boden steht ihre Handtasche. Sie starrt auf den Bildschirm vor ihr, auf dem es schwarze Felder gibt und rote und verschiedene Zahlen. Sie blickt nicht auf, wenn die weiße Kugel unter der Plastikkuppel langsamer wird und in eines der Felder kippt. Sie blickt nicht auf, wenn sie Geld verliert. Und sie blickt nicht auf, wenn sie Geld gewinnt.

Sie blickt nicht mal auf, als sie geht.


Aufstiegstraum: Einzug in den Container
Sie verschwindet einfach, der Stuhl steht da, als wäre sie nie hier gewesen. Sie ist die unsichtbare Frau, sie ist aus der unsichtbaren Schicht, sie war unsichtbar, sogar als sie da war. Sie ist die Frau aus der Unterschicht.

Die Angst ist eine Zahl

All die Jahre ist sie unsichtbar gewesen, all die Jahre, in denen es Deutschland erst immer besser ging und dann nicht mehr ganz so gut und schließlich deutlich weniger gut - aber so schlecht wie heute, schreit es einen dauernd an, so schlecht ging es uns schon lange nicht mehr. Anfang der Woche kam die Nachricht aus Nürnberg, und seitdem ist die Angst eine Zahl: 5,2, fünfkommazwei.

Und auf einmal ist da wieder jemand.

Die Frau, die vor der Plastikkuppel sitzt, unter der sich das Rouletterad dreht. Der junge Mann, der sein Arbeitslosengeld sofort ins Tattoostudio trägt. Die Frau von dreißig Jahren, die die Treppe zum Sonnenstudio hochsteigt, blaß wie sie ist. Der Mann, der um elf Uhr vormittags sein drittes Pils trinkt und dafür recht elegant die Bowlingkugel auf die Bahn bringt. Sie alle sind da, auf einmal und wie abgesprochen, in den Zeitungen, in der Politik und im Soziologieseminar von Paul Nolte oder Harald Schmidt.

Sie sind die Unterschicht, und wer wissen will, wohin sich dieses Land entwickelt, der sollte ernst nehmen, was diese Schicht bewegt.

Der sollte sich dafür interessieren, welche Musik sie hören und wann sie zuletzt ein Buch gelesen haben und welches Handy sie besitzen und wie lange sie im Internet surfen und welche Fernsehprogramme sie sehen. Der sollte mit ihnen zum Einkaufen gehen und sich an Tankstellen treffen und in der Küche sitzen. Der sollte die Kultur der Unterschicht kennen.

Sie wurde immer präsenter

Denn, seltsames Paradox des kulturellen Austauschs: Während die Unterschicht gesellschaftlich, politisch, ökonomisch immer unsichtbarer wurde und langsam verschwand, war sie ästhetisch immer vorhanden, wurde sie in den letzten Jahren sogar noch präsenter, wird sie das nächste Jahrzehnt bestimmen. Nicht nur durch das, was Harald Schmidt „Unterschichtenfernsehen” nannte. Sondern durch Bildwelten, Sprachveränderungen, Mediennutzung, Körperkult, Zeitvertreib. Durch eine kulturelle Praxis, die das vorwegnimmt, was die Gesellschaft in ein paar Jahren bewegen wird.

Es ist dieser in der Kultur des 20. Jahrhunderts immer wieder zu beobachtende Kreislauf, bei dem sich die Mehrheitskultur ihre Inspiration, ihre Kraft, ihre Neudefinition genau bei denen sucht, die sie sonst nicht sehen will. Mit anderen Worten: Was die Unterschicht heute denkt und tut, das erreicht morgen die Mittelschicht. Das einfachste Beispiel dafür ist das mit den Tattoos.

Einst Hafentradition, nun Kunst am Körper

Ein Vormittag in Neukölln, an der Grenze zu Kreuzberg. Melanie ist 32, sie hat grellblond gefärbte Haare und sehr kräftige Arme, um die sich Drachen ranken. Sie war im Heim, sie hat Drogen genommen, sie hat es geschafft. „Früher”, sagt sie, „sind die Proleten gekommen.” Heute kommen die Hausfrauen, die Bankangestellten, die Krankenschwestern. „Vor zwanzig Jahren”, sagt sie, „war das noch Hafentradition.” Heute ist es Kunst am Körper.

Seit etwas mehr als einem Jahr führt Melanie ihre eigene Tätowierstube, ein schmaler Raum, die Wände rot gestrichen, der Tresen mit Leopardenfell verkleidet. Vor kurzem war die Sängerin Bintia da, die sanften R'n'B macht, wie sie es hier gern mögen, und hat sich eine große Rose auf den Rücken stechen lassen. „Früher war Tätowieren vielleicht mal asozial”, sagt Melanie, die viel zu stolz ist, auf das, was sie geschafft hat, als daß es sie interessieren würde, ob Feuilletonisten sie als White Trash bezeichnen.

Fixierung auf den Körper

Diese Körperkultur, wie sie Melanie praktiziert, ist ein fast schon klassisches Beispiel für die ästhetische Durchlässigkeit zwischen Unterschicht und Mittelschicht. Das ist bei den Sonnenstudios so, das ist bei den Fitneßstudios so, das ist letztlich auch bei Spike so, dem Go-Go-Tänzer in der Diskothek „Palace” in Wedding, der eigentlich Steuerangestellter gelernt hat und jetzt im String-Tanga tanzt oder sich im Separee für vier Strip-Dollar auszieht - diese Fixierung auf den Körper als kulturelle Praxis ist auch im Rest der Gesellschaft schon so selbstverständlich geworden, daß gar nicht mehr deutlich ist, wo sie eigentlich herkommt.

Schwieriger ist es mit einem anderen Faktor, der immer stärker ins Bewußtsein der Unterschichtenkultur drängt: mit der Zeit und, damit verbunden, der Einsamkeit. „Papa, warum bist du den ganzen Tag zu Hause?” hat am Mittwoch der 10jährige Markus seinen Vater gefragt, in der „Bild”, auf der ersten Seite, ganz groß und ganz traurig. 24,6 Prozent ist die Arbeitslosigkeit in Neukölln, 25,3 Prozent in Friedrichshain-Kreuzberg.

Am Rand der bürgerlichen Kultur

In dem Shopping Center am Hermannplatz mit der Leuchtreklame „Neue Welt” ist die Bowlingbahn gut besucht, auch der Bauhaus-Heimwerkermarkt, auch die Spielbank Berlin mit ihren Automatenspielen. Dort starren die Menschen auf die Erdbeeren und Sterne, die sich vor ihnen drehen, wie postindustrielle Existenzen, ganz zurückgeworfen auf sich selbst, am äußeren Rand der bürgerlichen Kultur.

Wenn man davon ausgeht, daß in der bürgerlichen Kultur die Zeit gefaßt wird, gerafft, gebündelt, dann geht es in der unterbürgerlichen Kultur geradezu darum, die Zeit zu vernichten. Die Mittelschicht kennt vielleicht die Angst. Die Unterschicht lebt mit den Konsequenzen.

Und die Veränderungen sind rasant. Die Auflösung ganzer Milieuformen sieht etwa Wolfgang Kaschuba, Professor für Europäische Ethnologie an der Berliner Humboldt-Universität. Er spricht von der Individualisierung, die die Unterschicht besonders hart trifft, weil mit dem Verschwinden der klassischen Organisationsformen wie Verein oder Arbeit das Wir-Gefühl verlorengeht. Ein Drittel der Gesellschaft zählt er zur Unterschicht, nach Kriterien wie Arbeitslosigkeit, Bildung, Einkommen, Milieu.

Wachsende Vereinzelung

Es gibt immer weniger kinderreiche Unterschichtsfamilien, es gibt mehr Singles, mehr Getrennte. Die Vereinzelung führt zu neuen Formen der Organisation, von der Wiederkehr der Eckkneipe, in der sie die Bundesliga auf „Premiere” zeigen, bis zur Tankstelle, die vor allem in ländlichen Gegenden eine Mischung aus Jugendtreff, Disco und Kneipe ist. Das wichtigste Feld der kulturellen Selbstdefinition dieser Schicht allerdings, sagt Kaschuba, das ist ganz klar das Shopping.

Und was Shopping unter den Bedingungen sinkender Wirtschaftskraft bedeutet, das kann man zum Beispiel in den Gropius-Passagen in Neukölln beobachten, Berlins größtem Einkaufszentrum, ein verschachteltes Gebäude voller Kunstlicht-Schneisen. Thai Nippon, Holsteiner Räucherkate, Drospa, Ihr Punkt, Life Club, Barmer Zahnärzte. Falsche Musik und falsche Natur. Früher hätte man gesagt: Entfremdet. Heute kann man fragen: Wovon?

Shopping trägt zum Selbstbild bei

Hier gibt es zwei riesige Elektromärkte, weil es ohne Dolby-Surround-System eben gar nicht mehr geht; hier verkaufen sie Fernseher, für die sich ganze Familien verschulden; hier gibt es Kaufhäuser und Eisdielen und Tiergeschäfte; hier wird Shopping als eine kulturelle Disziplin definiert, wie man Zeit verbringen kann, sogar ohne etwas zu kaufen. Shopping, wie es hier praktiziert wird, faßt den Konsum als etwas auf, das wesentlich zum Selbstbild beitragen kann. Shopping kann aber auch heißen, daß man nur dabei ist, wenn andere kaufen.

Wie weit diese konsumistische Kulturdefinition geht, die die Mittelschichten noch nicht mit voller Härte erreicht hat, das sieht man daran, daß die Bewohner der umliegenden Hochhäuser auf die Frage nach ihrem Lieblingsort im Viertel recht häufig den eigenen Balkon nannten, aber auch die identitätsstiftenden Wandelhallen der Gropius-Passagen.

Was tun die Frauen?

Viele Fragen sind in diesem Zusammenhang aber noch offen, meint Wolfgang Kaschuba. Was tun etwa die jungen Frauen der sehr männlich dominierten Unterschicht? Welche Entwürfe gibt es für eine Jugendkultur? Vor allem aber welche Rolle spielen die neuen Medien?

Und in diesem Punkt sieht man, wer mit welchem Blick auf dieses Phänomen blickt. Da gibt es jemanden wie den Philologen Norbert Dittmar von der Freien Universität Berlin, der in einer Studie belegen will, daß die sprachlichen Fähigkeiten der Unterschichten seit den siebziger Jahren zurückgegangen seien.

1906 seien die Statistiken zum Analphabetentum in Deutschland abgeschafft worden, weil der Prozentsatz verschwindend gering war, heute gebe es vier Millionen Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Ob sich die Verschlechterung der Sprachfähigkeit allerdings, wie Dittmar meint, durch die neuen Medien erklärt, diesen Schluß würde Wolfgang Kaschuba zum Beispiel nicht mitmachen. Gerade Handys, die ja so wichtig sind für diese Schicht, oder auch das Internet würden ganz neue Möglichkeiten eröffnen, meint Kaschuba.

Nichts. Gar nichts

So ist das mit Tassilo. Wenn Professor Dittmar ihn besuchen würde in der engen Wohnung in Wedding, wo seine Mutter wohnt und die beiden Katzen, dann würde er wohl einen dicken, blassen Jungen von zwanzig Jahren sehen, für Dittmar Zeichen der Unterschicht, die in Gestik und Mimik weitgehend undifferenziert ist und deren Körpersprache oft glatte Ablehnung ausdrückt. Tassilo hält die Arme eine ganze Stunde vor der Brust verschränkt, und auf die Frage, was er macht, sagt er „gar nix”.

Für den Professorenkollegen Kaschuba allerdings wäre Tassilo ein gutes Beispiel dafür, wie abgekoppelt, aber auch adaptionsfähig diese Schicht tatsächlich ist. Tassilo geht praktisch nie aus dem Haus, er schaut kein Fernsehen, er hat noch nie ein Buch zu Ende gelesen, er kauft sich keine Musik, er geht nicht ins Kino. Er lebt im Internet. Er lädt sich alles herunter, die Musik, die er hört, Hip-Hop, Trance und Andrea Bocelli, die Kinofilme, die er schaut, zuletzt „Meine Frau, meine Schwiegermutter und ich”. Und vor ihm auf dem Tisch liegt ein Nokia-Handy für 450 Euro.

Eine unsichtbare Existenz

Das Telefon braucht er im Grunde nicht, er kommuniziert nur über das Internet. Er verdient auch ein bißchen Geld im Internet, indem er Webspace vermietet. Er liest viel, sagt er, zusammengenommen sind die ganzen Websites in einem Jahr wohl soviel wie hundert Bücher. „Ich versuche mir da, eine Existenz aufzubauen”, sagt er. Eine unsichtbare Existenz, unsichtbar wie die Frau vor dem Spielautomaten, unsichtbar wie der Mann in der Bowlingbahn, unsichtbar wie die Frau im Sonnenstudio, unsichtbar wie der Mann im Tattoo-Studio.

„Die junge Unterschicht”, sagt Wolfgang Kaschuba, „ist dabei, sich ganz eigene Kompetenzen anzueignen durch den Umgang mit der Technik.” Es ist eine zutiefst verunsicherte Schicht, die sich in solchen Momenten zeigt, eine Schicht, die uns stark prägen wird.

Man kann fast sagen, daß die Unterschicht eine Avantgarde ist. Sie zeigen uns, wie viele von uns in Zukunft leben werden.


Mitarbeit: Mareen van Marwyck, Daniel Boese


Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.03.2005, Nr. 9 / Seite 25
Bildmaterial: AP, dpa/dpaweb

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