"Und sie fraßen alles, was im Lande wuchs"
DER SPIEGEL 19/2005 - 09. Mai 2005
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,354979,00.html
Kultur
"Und sie fraßen alles, was im Lande wuchs"
Der Sprachforscher Uwe Pörksen über Franz Münteferings Tiervergleich und den gefährlichen Umgang mit Metaphern
Albert Josef Schmidt
Sprachforscher Pörksen: "Ein Wort kommt nicht aus heiterem Himmel"
Kein Geringerer als der Philosoph Aristoteles bemerkte in seiner "Poetik": "Weitaus am wichtigsten aber ist die richtige Verwendung von Metaphern. Dies allein kann man von keinem anderen lernen, es ist ein Zeichen natürlicher Begabung; denn gute Metaphern erfinden heißt einen guten Blick für Ähnlichkeiten haben."
Hat der SPD-Vorsitzende diesen Blick? Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Heuschreckenschwärmen und dem expandierenden Kapital, genauer: einer bestimmten Gruppe von Kapitalinvestoren, noch spezieller: einer begrenzten Liste von Private-Equity-Gesellschaften, welche die Länder wechseln und in wacklige Unternehmen investieren, um sie aufzumöbeln oder zu zerschlagen und in kurzer Zeit sehr viel Geld zu machen? Die Überschrift in "Bild am Sonntag" vom 17. April - "Manche Finanzinvestoren fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her" - ist in den vergangenen Wochen zu einer Wolke angewachsen, hinter der die Sonne der Aufklärung mehr und mehr verschwindet. Was wurde verglichen, und was ist der Vergleichspunkt, das gemeinsame Dritte zwischen diesem Typus von Investoren und jenem landlebenden Wanderinsekt mit den kauenden Mundwerkzeugen?
Sehr geehrter Herr Müntefering, Sie sind bekannt für Ihre kurzen und klaren Sätze. Sie sprechen anschaulich, Ihr wichtigster Bildspender ist das Fußballfeld. "Eine Partei braucht zwei Flügel, einen rechten und einen linken, aber die Tore werden in der Mitte geschossen", sagen Sie, oder: "Wer nur in der eigenen Hälfte spielt, kann nicht gewinnen." Jetzt haben Sie sich weit in die gegnerische Hälfte vorgewagt, in vollem Bewusstsein, welches Verteidigungs- und Angriffspotential Sie da vor sich haben, und mit unvorstellbarem Echo. Ich weiß nicht, mit wem Sie Ihre Formulierungen diskutieren und wer für Sie schreibt. Gab es keinen, der Sie davor gewarnt hat, es mit einem Tiervergleich zu versuchen?
Uwe Pörksen, 70, Professor für Deutsche Sprache und Ältere Literatur, lebt in Freiburg im Breisgau. Er veröffentlichte zuletzt die Bücher "Die politische Zunge. Eine kurze Kritik der öffentlichen Rede" (Verlag Klett-Cotta, 2002) und "Was ist eine gute Regierungserklärung? Grundriss einer politischen Poetik" (Wallstein Verlag, 2004)
Tiervergleiche können harmlos sein, "Spatz" und "Maus" sind Kosenamen, Löwen und Adler waren Herrschaftszeichen der Kaiser und Könige, und wenn seinerzeit ein Konrad Adenauer als "alter Fuchs" erschien, drückte sich darin humoristischer Respekt aus. Aber die Bundesrepublik hat auch ihr trübes Metaphernkapitel. Interessanterweise waren es in den sechziger und siebziger Jahren (und noch bis in die achtziger) vor allem die Intellektuellen, Schriftsteller, protestierende Studenten, die von führenden Politikern als "kleine Pinscher", "Ratten und Schmeißfliegen" tituliert wurden, einmal sogar als "Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich" sei. Oder es hieß krachledern und pompös: "Was wir hier in diesem Land brauchen, sind mutige Bürger, die die roten Ratten dorthin jagen, wo sie hingehören - in ihre Löcher."
Natürlich stand damit fest, dass die Angreiferseite faschistischen Geistes sei. Es war ein elendes, eingespieltes Spiel und vor allem insofern betrachtenswert, als das Gegenüber erstarrter Bilder von der Sache ablenkte, die zu verhandeln gewesen wäre.
Man berief sich dabei gern auf das "Wörterbuch des Unmenschen", das wie eine Art Nazi-Detektor verwendet wurde. Im Ursprung war dies eine Essay-Sammlung von Sternberger, Storz, Süskind über Wörter wie "Menschenbehandlung", "intellektuell", "organisieren", "Betreuung", die in der NS-Zeit eine gefährliche Bedeutung erhalten und das öffentliche Denken vergiftet hatten.
AP
SPD-Vorsitzender Müntefering: Weit in die gegnerische Hälfte vorgewagt
Wenn jemand ein Wort verwendete, das nach dem "Wörterbuch des Unmenschen" aussah oder in der NS-Zeit tatsächlich gebraucht worden war, hielt man ihn für entlarvt. Tatsächlich ist das Wort keine so selbständige Größe, es erhält seine Bedeutung nicht nur aus seiner Geschichte, geschweige aus einer bestimmten epochalen Prägung, sondern ebenso sehr aus seinem aktuellen Gebrauch, durch den Sprecher, der es verwendet, und den Sinn, den er ihm in seinem konkreten Zusammenhang gibt. Es ist plastisch. Die starre Entlarvungstechnik ist Unfug.
Aber auf der anderen Seite gilt: Ein Wort kommt nicht aus heiterem Himmel. Ihm haftet Geschichte an. Münteferings Heuschreckenschwärme sind archaischen Ursprungs, sie stammen aus dem Alten Testament, 2. Buch Mose, Kapitel 10: "Die achte Plage". Als Ägyptens Pharao Mose nicht gestatten wollte, das Volk Israel aus ägyptischer Knechtschaft in das Land der Verheißung zu führen, sandte Jahwe, der Herr, zehn Plagen, unter ihnen Stechmücken, Viehpest, Blattern und eben auch Heuschrecken. Es herrschte Ostwind, und sie kamen, so viele wie nie zuvor. "Denn sie bedeckten den Erdboden so dicht, dass er ganz dunkel wurde. Und sie fraßen alles, was im Lande wuchs, und alle Früchte auf den Bäumen, die der Hagel übrig gelassen hatte, und ließen nichts Grünes übrig an den Bäumen und auf dem Felde in ganz Ägyptenland." - Donnerwetter! Tania Blixen hat die Heimsuchung ihrer Farm in Afrika durch eine Heuschreckenwolke genauso beschrieben.
Ob der Vorsitzende der SPD diesen Ursprung seines Vergleichs vor Augen hatte? Er scheint ihn öfter verwendet zu haben, zuerst wohl schon vor einem halben Jahr. Am 19. November 2004 sagte er gegen Schluss eines öffentlichen Vortrages in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin: "Wir müssen denjenigen Unternehmern, die die Zukunftsfähigkeit ihrer Unternehmen und die Interessen ihrer Arbeitnehmer im Blick haben, helfen gegen die verantwortungslosen Heuschreckenschwärme, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen, wenn sie sie abgefressen haben. Kapitalismus ist keine Sache aus dem Museum, sondern brandaktuell." - Der Passus blieb unbeachtet.
Eine Rede auf dem 3. Programmforum der SPD am 13. April im Willy-Brandt-Haus in Berlin, bei der die Presse zugegen war, enthielt dann den Sachkern seiner Kapitalismuskritik in eingehend fundierter und verschärfter Fassung, allerdings ohne das Bild der Heuschreckenschwärme. Auch hier scheint die erste Wirkung verpufft zu sein. Man ging, wird berichtet, auseinander in dem Gefühl, es sei eine gute, aber nicht besonders auffällige Rede gewesen.
IG-Metall-Zeitschrift: Suggestives Insektenbild
Vor allem das Interview der "Bild am Sonntag" bewirkte die Initialzündung. Die Rede vom 13. April war eine sachlich begründete Analyse gewesen, jetzt, im Interview, wechselt Müntefering den Sprachtyp. Wir erleben ein Drama, eine Geschichte. Ein Einzelner wettert gegen die "wachsende Macht des Kapitals", wehrt sich gegen "Leute aus der Wirtschaft und den internationalen Finanzmärkten, die sich aufführen, als gäbe es für sie keine Schranken und Regeln mehr" und wendet sich gegen Investoren, die "keinen Gedanken an die Menschen" verschwenden, "deren Arbeitsplätze sie vernichten". Ein Einzelner kämpft, ist empört, urteilt und visualisiert sein Gegenüber: "Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir." - Woher die Wirkung?
Das Bild erlaubt eine Gestaltwahrnehmung. Abstrakte und komplizierte Vorgänge, denen der Akteur und eine Sinnrichtung zunächst zu fehlen scheinen, werden als Geschehen und Handlung vorstellbar und griffig. Man übersieht sie mit einem Blick, in einem Wort, und versteht: Heuschreckenschwärme vernichten unsere Arbeitsplätze. Die alte dem Bild zugeschriebene Funktion, dem, der nicht genug Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen, erfüllt sich.
Eine zweite Seite der Sache: Das Bild wirkt wie ein Argument. Wir nehmen ihm ab, was es sagt - und zwar im doppelten Sinn. Wir erschließen es aus dem Bild und folgen ihm, zumindest eine Strecke.
Die dritte Wirkung betrifft das Gebiet der Gefühle. Alles ist plausibel sichtbar und eingebettet in Gefühle und Wertungen. Anschauung und Gefühl hängen aufs engste zusammen. Wer intensiv etwas wünscht oder gereizt ist, neigt dazu, seinem Gefühl einen Anhalt, dem Gegner einen Umriss zu geben. Das Wort "Feindbild" ist ein sehr richtiger Ausdruck; der Feind ist nur in Bildern zu fassen.
DPA
Heuschrecken-Plage (Fuerteventura, 2004): Bildspender für archaische Wortfigur
Man kann diese trübsinnige Geschichte durch die Jahrhunderte verfolgen, auch ihre komische Seite. Als der junge Parzival auf der Gralsburg die Frage versäumt hat, die Anfortas von seinem Leiden erlöst hätte, wird er von der Gralsbotin Cundrie gescholten; "Natternzahn" nennt sie ihn und, offenbar das Äußerste des Äußersten: "Anglerfliege".
Die Geschichte des Christentums, die seiner Kriege mit den Ungläubigen, ist von Tiervergleichen begleitet. Im deutschen "Rolandslied" (um 1170) werden die Heiden, die an Mohammed glauben, mit heulenden, vertriebenen Hunden verglichen und auf der Flucht "sam daz vihe" - wie das Vieh - getötet. Der Vergleich der Gottlosen mit Hunden und Schweinen hat im Neuen Testament, in dem 2. Brief des Petrus, eine Quelle: Es seien unvernünftige Tiere, "die von Natur dazu geboren sind, dass sie gefangen und geschlachtet werden". Im "Wilhelm"-Epos des Wolfram von Eschenbach, auch dies eine Kreuzzugsdichtung (um 1220), widerspricht der Dichter ausdrücklich seinem rigorosen Vorgänger. Er nennt das Kriegsgeschehen dreimal "Mord" und erklärt es für große Sünde, die Fliehenden wie das Vieh zu erschlagen. Sie seien alle Gottes Handarbeit ("hantgetât"), die 72 Völker, die er habe.
Ein fataler, ihre Adressaten brutal erniedrigender Assoziationsraum sind die Feindbilder der NS-Zeit, die Bilder von Parasiten, Maden, Ungeziefer und die zu ihnen gehörenden Tätigkeitswörter: ausmerzen, vertilgen, vernichten. Mit Recht gilt die Grenze vor dieser Sprachwelt als unüberschreitbar.
Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Wo liegt der Vergleichspunkt, das Tertium Comparationis, das gemeinsame Dritte, wenn eine in Deutschland neue Investorengruppe als "Heuschreckenschwarm" bezeichnet wird? Ist es die Kleinheit der Agenten? Doch wohl kaum. Ist es ihre Unzahl? Das scheint eher gemeint gewesen zu sein. Dem Bild der verheerenden Heuschreckenwolke verdankt der Vergleich einen erheblichen Teil seiner Wirkung. Ob es zutrifft auf die am Ende kleine Liste der Gemeinten, ist eine ganz andere Frage. Sind es die Kauwerkzeuge, der Kahlfraß? Daran vor allem war ausdrücklich gedacht, an das Abgrasen und Liegenlassen; hier bedürfte es aber eingehender Beweisführung. Ist es der biblische Zusammenhang? Investoren als Plage und als Strafe Jehovas? - Kommt nicht in Frage.
Der Einbruch einer gedankenlosen, blinden Naturgewalt? - Der Vergleich hinkt auf mehr als zwei Beinen, an dieser Stelle wird ein grundfalscher Begriff erzeugt. Die Ökonomie ist keine Natur-, sondern eine Kulturgewalt. Sie folgt nicht einer blinden, sondern ihrer eigenen Logik, ihren Spielregeln. Das Kernproblem ist, dass diese Spielregeln sich zwar für die Sozietät günstig auswirken können, aber nicht müssen. Sie sind von Haus aus keine Sozialwerkzeuge und können schaden. Zwischen der Räson der Ökonomie, insbesondere der Weltökonomie, und der Räson des Nationalstaats ist eine sich rasch vertiefende Kluft entstanden. Dafür, für die soziale Verantwortung und Bindung der Ökonomie, fehlt ein Rezept, fehlen vielleicht sogar praktikable Vorschläge. Umso schiefer der Vergleich!
Ein Reiz kann eine Debatte fördern, sogar erst hervorbringen. Man sollte das Einzelwort als Größe nicht überschätzen, es kommt auf den Kontext an. Vielleicht waren die Heuschreckenschwärme nur als Reizvokabel, als Tabubrecher gemeint? Nicht ungefährlich - doch nichts wäre nutzloser als eine Bilderstarre. Aber wenn die Tierchen als Türöffner wirkten, wäre viel gewonnen.
Mehr: Heuschreck.com
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,354979,00.html
Kultur
"Und sie fraßen alles, was im Lande wuchs"
Der Sprachforscher Uwe Pörksen über Franz Münteferings Tiervergleich und den gefährlichen Umgang mit Metaphern
Albert Josef Schmidt
Sprachforscher Pörksen: "Ein Wort kommt nicht aus heiterem Himmel"
Kein Geringerer als der Philosoph Aristoteles bemerkte in seiner "Poetik": "Weitaus am wichtigsten aber ist die richtige Verwendung von Metaphern. Dies allein kann man von keinem anderen lernen, es ist ein Zeichen natürlicher Begabung; denn gute Metaphern erfinden heißt einen guten Blick für Ähnlichkeiten haben."
Hat der SPD-Vorsitzende diesen Blick? Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Heuschreckenschwärmen und dem expandierenden Kapital, genauer: einer bestimmten Gruppe von Kapitalinvestoren, noch spezieller: einer begrenzten Liste von Private-Equity-Gesellschaften, welche die Länder wechseln und in wacklige Unternehmen investieren, um sie aufzumöbeln oder zu zerschlagen und in kurzer Zeit sehr viel Geld zu machen? Die Überschrift in "Bild am Sonntag" vom 17. April - "Manche Finanzinvestoren fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her" - ist in den vergangenen Wochen zu einer Wolke angewachsen, hinter der die Sonne der Aufklärung mehr und mehr verschwindet. Was wurde verglichen, und was ist der Vergleichspunkt, das gemeinsame Dritte zwischen diesem Typus von Investoren und jenem landlebenden Wanderinsekt mit den kauenden Mundwerkzeugen?
Sehr geehrter Herr Müntefering, Sie sind bekannt für Ihre kurzen und klaren Sätze. Sie sprechen anschaulich, Ihr wichtigster Bildspender ist das Fußballfeld. "Eine Partei braucht zwei Flügel, einen rechten und einen linken, aber die Tore werden in der Mitte geschossen", sagen Sie, oder: "Wer nur in der eigenen Hälfte spielt, kann nicht gewinnen." Jetzt haben Sie sich weit in die gegnerische Hälfte vorgewagt, in vollem Bewusstsein, welches Verteidigungs- und Angriffspotential Sie da vor sich haben, und mit unvorstellbarem Echo. Ich weiß nicht, mit wem Sie Ihre Formulierungen diskutieren und wer für Sie schreibt. Gab es keinen, der Sie davor gewarnt hat, es mit einem Tiervergleich zu versuchen?
Uwe Pörksen, 70, Professor für Deutsche Sprache und Ältere Literatur, lebt in Freiburg im Breisgau. Er veröffentlichte zuletzt die Bücher "Die politische Zunge. Eine kurze Kritik der öffentlichen Rede" (Verlag Klett-Cotta, 2002) und "Was ist eine gute Regierungserklärung? Grundriss einer politischen Poetik" (Wallstein Verlag, 2004)
Tiervergleiche können harmlos sein, "Spatz" und "Maus" sind Kosenamen, Löwen und Adler waren Herrschaftszeichen der Kaiser und Könige, und wenn seinerzeit ein Konrad Adenauer als "alter Fuchs" erschien, drückte sich darin humoristischer Respekt aus. Aber die Bundesrepublik hat auch ihr trübes Metaphernkapitel. Interessanterweise waren es in den sechziger und siebziger Jahren (und noch bis in die achtziger) vor allem die Intellektuellen, Schriftsteller, protestierende Studenten, die von führenden Politikern als "kleine Pinscher", "Ratten und Schmeißfliegen" tituliert wurden, einmal sogar als "Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich" sei. Oder es hieß krachledern und pompös: "Was wir hier in diesem Land brauchen, sind mutige Bürger, die die roten Ratten dorthin jagen, wo sie hingehören - in ihre Löcher."
Natürlich stand damit fest, dass die Angreiferseite faschistischen Geistes sei. Es war ein elendes, eingespieltes Spiel und vor allem insofern betrachtenswert, als das Gegenüber erstarrter Bilder von der Sache ablenkte, die zu verhandeln gewesen wäre.
Man berief sich dabei gern auf das "Wörterbuch des Unmenschen", das wie eine Art Nazi-Detektor verwendet wurde. Im Ursprung war dies eine Essay-Sammlung von Sternberger, Storz, Süskind über Wörter wie "Menschenbehandlung", "intellektuell", "organisieren", "Betreuung", die in der NS-Zeit eine gefährliche Bedeutung erhalten und das öffentliche Denken vergiftet hatten.
AP
SPD-Vorsitzender Müntefering: Weit in die gegnerische Hälfte vorgewagt
Wenn jemand ein Wort verwendete, das nach dem "Wörterbuch des Unmenschen" aussah oder in der NS-Zeit tatsächlich gebraucht worden war, hielt man ihn für entlarvt. Tatsächlich ist das Wort keine so selbständige Größe, es erhält seine Bedeutung nicht nur aus seiner Geschichte, geschweige aus einer bestimmten epochalen Prägung, sondern ebenso sehr aus seinem aktuellen Gebrauch, durch den Sprecher, der es verwendet, und den Sinn, den er ihm in seinem konkreten Zusammenhang gibt. Es ist plastisch. Die starre Entlarvungstechnik ist Unfug.
Aber auf der anderen Seite gilt: Ein Wort kommt nicht aus heiterem Himmel. Ihm haftet Geschichte an. Münteferings Heuschreckenschwärme sind archaischen Ursprungs, sie stammen aus dem Alten Testament, 2. Buch Mose, Kapitel 10: "Die achte Plage". Als Ägyptens Pharao Mose nicht gestatten wollte, das Volk Israel aus ägyptischer Knechtschaft in das Land der Verheißung zu führen, sandte Jahwe, der Herr, zehn Plagen, unter ihnen Stechmücken, Viehpest, Blattern und eben auch Heuschrecken. Es herrschte Ostwind, und sie kamen, so viele wie nie zuvor. "Denn sie bedeckten den Erdboden so dicht, dass er ganz dunkel wurde. Und sie fraßen alles, was im Lande wuchs, und alle Früchte auf den Bäumen, die der Hagel übrig gelassen hatte, und ließen nichts Grünes übrig an den Bäumen und auf dem Felde in ganz Ägyptenland." - Donnerwetter! Tania Blixen hat die Heimsuchung ihrer Farm in Afrika durch eine Heuschreckenwolke genauso beschrieben.
Ob der Vorsitzende der SPD diesen Ursprung seines Vergleichs vor Augen hatte? Er scheint ihn öfter verwendet zu haben, zuerst wohl schon vor einem halben Jahr. Am 19. November 2004 sagte er gegen Schluss eines öffentlichen Vortrages in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin: "Wir müssen denjenigen Unternehmern, die die Zukunftsfähigkeit ihrer Unternehmen und die Interessen ihrer Arbeitnehmer im Blick haben, helfen gegen die verantwortungslosen Heuschreckenschwärme, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen, wenn sie sie abgefressen haben. Kapitalismus ist keine Sache aus dem Museum, sondern brandaktuell." - Der Passus blieb unbeachtet.
Eine Rede auf dem 3. Programmforum der SPD am 13. April im Willy-Brandt-Haus in Berlin, bei der die Presse zugegen war, enthielt dann den Sachkern seiner Kapitalismuskritik in eingehend fundierter und verschärfter Fassung, allerdings ohne das Bild der Heuschreckenschwärme. Auch hier scheint die erste Wirkung verpufft zu sein. Man ging, wird berichtet, auseinander in dem Gefühl, es sei eine gute, aber nicht besonders auffällige Rede gewesen.
IG-Metall-Zeitschrift: Suggestives Insektenbild
Vor allem das Interview der "Bild am Sonntag" bewirkte die Initialzündung. Die Rede vom 13. April war eine sachlich begründete Analyse gewesen, jetzt, im Interview, wechselt Müntefering den Sprachtyp. Wir erleben ein Drama, eine Geschichte. Ein Einzelner wettert gegen die "wachsende Macht des Kapitals", wehrt sich gegen "Leute aus der Wirtschaft und den internationalen Finanzmärkten, die sich aufführen, als gäbe es für sie keine Schranken und Regeln mehr" und wendet sich gegen Investoren, die "keinen Gedanken an die Menschen" verschwenden, "deren Arbeitsplätze sie vernichten". Ein Einzelner kämpft, ist empört, urteilt und visualisiert sein Gegenüber: "Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir." - Woher die Wirkung?
Das Bild erlaubt eine Gestaltwahrnehmung. Abstrakte und komplizierte Vorgänge, denen der Akteur und eine Sinnrichtung zunächst zu fehlen scheinen, werden als Geschehen und Handlung vorstellbar und griffig. Man übersieht sie mit einem Blick, in einem Wort, und versteht: Heuschreckenschwärme vernichten unsere Arbeitsplätze. Die alte dem Bild zugeschriebene Funktion, dem, der nicht genug Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen, erfüllt sich.
Eine zweite Seite der Sache: Das Bild wirkt wie ein Argument. Wir nehmen ihm ab, was es sagt - und zwar im doppelten Sinn. Wir erschließen es aus dem Bild und folgen ihm, zumindest eine Strecke.
Die dritte Wirkung betrifft das Gebiet der Gefühle. Alles ist plausibel sichtbar und eingebettet in Gefühle und Wertungen. Anschauung und Gefühl hängen aufs engste zusammen. Wer intensiv etwas wünscht oder gereizt ist, neigt dazu, seinem Gefühl einen Anhalt, dem Gegner einen Umriss zu geben. Das Wort "Feindbild" ist ein sehr richtiger Ausdruck; der Feind ist nur in Bildern zu fassen.
DPA
Heuschrecken-Plage (Fuerteventura, 2004): Bildspender für archaische Wortfigur
Man kann diese trübsinnige Geschichte durch die Jahrhunderte verfolgen, auch ihre komische Seite. Als der junge Parzival auf der Gralsburg die Frage versäumt hat, die Anfortas von seinem Leiden erlöst hätte, wird er von der Gralsbotin Cundrie gescholten; "Natternzahn" nennt sie ihn und, offenbar das Äußerste des Äußersten: "Anglerfliege".
Die Geschichte des Christentums, die seiner Kriege mit den Ungläubigen, ist von Tiervergleichen begleitet. Im deutschen "Rolandslied" (um 1170) werden die Heiden, die an Mohammed glauben, mit heulenden, vertriebenen Hunden verglichen und auf der Flucht "sam daz vihe" - wie das Vieh - getötet. Der Vergleich der Gottlosen mit Hunden und Schweinen hat im Neuen Testament, in dem 2. Brief des Petrus, eine Quelle: Es seien unvernünftige Tiere, "die von Natur dazu geboren sind, dass sie gefangen und geschlachtet werden". Im "Wilhelm"-Epos des Wolfram von Eschenbach, auch dies eine Kreuzzugsdichtung (um 1220), widerspricht der Dichter ausdrücklich seinem rigorosen Vorgänger. Er nennt das Kriegsgeschehen dreimal "Mord" und erklärt es für große Sünde, die Fliehenden wie das Vieh zu erschlagen. Sie seien alle Gottes Handarbeit ("hantgetât"), die 72 Völker, die er habe.
Ein fataler, ihre Adressaten brutal erniedrigender Assoziationsraum sind die Feindbilder der NS-Zeit, die Bilder von Parasiten, Maden, Ungeziefer und die zu ihnen gehörenden Tätigkeitswörter: ausmerzen, vertilgen, vernichten. Mit Recht gilt die Grenze vor dieser Sprachwelt als unüberschreitbar.
Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Wo liegt der Vergleichspunkt, das Tertium Comparationis, das gemeinsame Dritte, wenn eine in Deutschland neue Investorengruppe als "Heuschreckenschwarm" bezeichnet wird? Ist es die Kleinheit der Agenten? Doch wohl kaum. Ist es ihre Unzahl? Das scheint eher gemeint gewesen zu sein. Dem Bild der verheerenden Heuschreckenwolke verdankt der Vergleich einen erheblichen Teil seiner Wirkung. Ob es zutrifft auf die am Ende kleine Liste der Gemeinten, ist eine ganz andere Frage. Sind es die Kauwerkzeuge, der Kahlfraß? Daran vor allem war ausdrücklich gedacht, an das Abgrasen und Liegenlassen; hier bedürfte es aber eingehender Beweisführung. Ist es der biblische Zusammenhang? Investoren als Plage und als Strafe Jehovas? - Kommt nicht in Frage.
Der Einbruch einer gedankenlosen, blinden Naturgewalt? - Der Vergleich hinkt auf mehr als zwei Beinen, an dieser Stelle wird ein grundfalscher Begriff erzeugt. Die Ökonomie ist keine Natur-, sondern eine Kulturgewalt. Sie folgt nicht einer blinden, sondern ihrer eigenen Logik, ihren Spielregeln. Das Kernproblem ist, dass diese Spielregeln sich zwar für die Sozietät günstig auswirken können, aber nicht müssen. Sie sind von Haus aus keine Sozialwerkzeuge und können schaden. Zwischen der Räson der Ökonomie, insbesondere der Weltökonomie, und der Räson des Nationalstaats ist eine sich rasch vertiefende Kluft entstanden. Dafür, für die soziale Verantwortung und Bindung der Ökonomie, fehlt ein Rezept, fehlen vielleicht sogar praktikable Vorschläge. Umso schiefer der Vergleich!
Ein Reiz kann eine Debatte fördern, sogar erst hervorbringen. Man sollte das Einzelwort als Größe nicht überschätzen, es kommt auf den Kontext an. Vielleicht waren die Heuschreckenschwärme nur als Reizvokabel, als Tabubrecher gemeint? Nicht ungefährlich - doch nichts wäre nutzloser als eine Bilderstarre. Aber wenn die Tierchen als Türöffner wirkten, wäre viel gewonnen.
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junge - 10. Mai, 19:37
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