Wir fühlen uns jünger als wir sind
Die Revolution der Lebensläufe
Der blinde Glaube, die Jugend sei im Alter von dreißig Jahren beendet, ist gebrochen: Zur Geschichte eines lautlosen Umsturzes, der uns alle ergriffen hat/Von Claudius Seidl
An dem Tag, an dem ich vierzig wurde, wachte ich, weil ich hineingefeiert hatte, mit einem Kater auf, trank, als Gegengift, eine halbe Flasche Wasser und vier Tassen starken, schwarzen Kaffees, zog einen grauen Sommeranzug, aber keine Strümpfe an, krempelte die Hosen hoch, fuhr mit dem Rad zur Arbeit, beschimpfte unterwegs ein paar Autofahrer, die den Radweg blockierten, fing auf der ersten Konferenz des Tages einen Streit mit meinem Vorgesetzten an, machte später, als der Personalchef mit einer Flasche Champagner kam, die ich, so sein Vorschlag, am Abend trinken sollte, ein paar Scherze auf seine Kosten und öffnete den Champagner gleich, ging am Mittag essen mit Kollegen, die ich Jungs nannte, lachte über ihre Scherze, die auf meine Kosten gingen, schaute auf dem Rückweg, weil es Sommer war, den kurzen Sommerkleidern hinterher, legte meine Füße auf den Schreibtisch und blieb, weil es soviel zu tun gab und die Arbeit eigentlich ein Vergnügen war, viel zu lange im Büro, legte mich am Abend aufs Sofa und hörte sehr laute Soulmusik, sagte allen, die anriefen und mir gratulierten, es gehe mir gut, trank einen kleinen Whisky und küßte meine Frau und sagte zu ihr: Ich habe ein gutes Leben. Warum macht es mich trotzdem traurig? Warum werde ich das Gefühl nicht los, daß ich zehn Jahre zu alt für dieses Leben bin?
Du bist fünfzehn Jahre zu alt, sagte sie, aber jedes andere Leben würde dich noch trauriger machen.
Als sie schlief, lag ich noch lange wach und nahm mir vor, demnächst einmal konzentriert über mein Alter nachzudenken. Morgen, übermorgen, an einem Tag, an dem ich ausgeschlafen haben würde.
*
Gegen Mittag rief endlich Leo an, um mir alles zu erzählen - seine Botschaft war, daß es nichts zu erzählen gab. "Es war ein Flop", sagte Leo, "du hast nichts versäumt, sei froh, daß du nicht mitgegangen bist."
Leo hatte mir die Party des Monats versprochen, am Nachmittag davor, als er seinen Abend plante: "Komm mit", hatte er gesagt, "wir werden schöne Menschen sehen, vor allem Frauen, wunderbare Frauen." Eine neue Zeitschrift wurde vorgestellt, die Einladungskarten waren schwarz und schick, ich konnte aber nicht, ich durfte nicht mit, ich mußte aufstehen am nächsten Morgen. "Die Frauen", sagte trotzdem Leo, "die großen, schlanken Frauen in ihren spitzen Prada-Pumps. Du mußt wissen, was du dir entgehen läßt."
"Waren sie da, die schönen Frauen?" fragte ich Leo am Telefon.
"Sie waren da. Das glaube ich jedenfalls. Es war so dunkel auf dieser Party, daß ich sie nicht richtig sehen konnte. Und so laut war es, daß ich sie nicht ansprechen konnte. Idiotenparty." Er sei, sagte Leo, wie alle anderen dumm herumgestanden, er habe ein bißchen getrunken, alle Angebote zu illegalen Drogen ausgeschlagen - und dann habe er doch noch mit Heike geknutscht, der Drehbuchschreiberin, die er seit Monaten kenne und die dann doch nicht mit zu ihm gegangen sei, was aber, wie Leo schwor, ihm letztlich auch egal gewesen sei. Verliebt sei er eh nicht in sie, und nachts müsse er noch immer an Sabine denken, die arrogante Sabine, die ihn vor einem Monat verlassen hatte und zu ihrem Freund zurückgekehrt war.
Das war also die Nacht, die ich verschlafen hatte: eine ganz normale Freitagnacht, eine Party- und Flirtnacht, eine Whiskynacht, genau das, was einer am Ende der Woche eben braucht - wenn er neunzehn oder fünfundzwanzig ist.
Leo ist im Herbst dreiundvierzig geworden, und er hält, was er so in seiner Freizeit tut, für seinem Alter absolut angemessen. Seine Freunde leben auch nicht anders, er kennt kaum jemanden, der sich für eine solche Nacht zu alt und zu erwachsen fühlte. Und wie neu und ungeheuerlich das ist, wie revolutionär und wundersam: Das erkennt man womöglich erst dann, wenn man kurz zurückblendet in der Zeit, ein halbes Jahrhundert ungefähr, ins Jahr 1952, als ein sehr komischer Film von Howard Hawks in die Kinos kam - eine Komödie, deren visionäre Kraft sich erst heute offenbart. "Monkey Business" hieß der Film im Original; der deutsche Titel war "Liebling, ich werde jünger", und Cary Grant spielte darin den Mann, der die Formel für die ewige Jugend entdeckt: ein Serum, das jeden jünger werden läßt.
Grant war hier ein seriöser Herr von Anfang Vierzig, verheiratet, bebrillt und immer korrekt gekleidet - bis er, aus Versehen, von dem Serum trank. Erst spürte er bloß ein albernes Gefühl. Dann ließ er sich die Haare zur Bürste schneiden. Er kaufte einen Sportwagen mit offenem Verdeck. Und dann setzte er die junge Marilyn Monroe auf den Beifahrersitz, drückte aufs Gaspedal, und Marilyn Monroe kreischte vor Vergnügen.
Ein Mann in seinen Vierzigern, der sich so aufführt, als blieben ihm bis zum Erwachsenwerden noch zehn Jahre Zeit: Das war vor fünfzig Jahren lächerlich, und bis in die achtziger Jahre hinein blieb Howard Hawks' Komödie ein Renner im Sonntagnachmittagsfernsehprogramm.
Heute bekommt man den Film kaum noch zu sehen - was wohl vor allem daran liegt, daß seinen Gags die Grundlage entzogen wurde. Was damals lustig wirkte, ist heute der Normalzustand. Wir sollten uns "Liebling, ich werde jünger" nicht bloß als Komödie, sondern als Science-fiction vorstellen - in der Zukunft, wie sie dieser Film beschreibt, sind wir längst angekommen.
Der Vierzigjährige, der sich noch immer halbstark fühlt und kleidet und benimmt, ist der repräsentative Bewohner unserer Gegenwart. Er begegnet uns in der U-Bahn, in der Bankfiliale und am Arbeitsplatz, im Stammlokal und natürlich auf allen Leinwänden. Er fällt nicht auf, weil es fast nur noch seinesgleichen gibt.
Und natürlich ist dieser repräsentative Zeitgenosse in fünfzig Prozent aller Fälle eine Frau - und was sich da verändert, ja welche Revolution die Verhältnisse erschüttert hat: Das zeigt sich überdeutlich, wenn wir noch einmal zurückblenden in den Film. Nach Cary Grant kostet auch seine Frau vom Jugendlichkeitsserum, und diese Frau spielte Ginger Rogers, die zur Zeit der Dreharbeiten vierzig Jahre alt war. Sie war in den dreißiger Jahren der größte Star des Filmmusicals gewesen, eine schöne, starke Frau mit einem breiten Mund und strahlenden Augen, eine atemberaubende Tänzerin, die Partnerin von Fred Astaire, die Hälfte eines Traumpaars, über das man sagte: "She gave him sex, he gave her class." Aber Ginger Rogers war älter geworden, sie war ideal besetzt als Ehefrau, sie trug Röcke, die das Knie bedeckten, und sah aus, als könnte sie den perfekten Truthahn zubereiten. Nur jung sah sie überhaupt nicht aus - und wenn sie im Film das Wundermittel nimmt und anfängt, sich wie ein Mädchen zu benehmen, albern, sexy, kokett: Da tut einem Ginger Rogers eher leid, als daß man über sie lachen möchte. Sie sieht alt und ein bißchen unglücklich aus, wenn sie sich wie eine Jugendliche gibt. Und wenn die Wirkung verflogen ist, möchte man sich bei dem Film bedanken, im Namen von Ginger Rogers.
Offenbar wirkt das Serum, das uns Zeitgenossen injiziert worden ist, viel stärker und viel nachhaltiger. Es hat nicht bloß das Befinden verjüngt, es verändert auch die Körper. Eine Frau, die so aussieht wie Ginger Rogers in dem Film, würden wir heute auf Anfang Fünfzig schätzen. Eine Frau von Vierzig dagegen, die sich mit den Insignien der Jugendlichkeit schmückt, fällt im schlimmsten Fall überhaupt nicht auf. Und im besten eher angenehm. Sie ist die Regel, nicht die Ausnahme - mit welchem Alter die Jugend endet, war noch nie so ungewiß wie heute.
Sicher ist nur, daß unsere Gesellschaft, wenn sie ihr Selbstporträt anfertigt und wenn sie nach der perfekten Verkörperung ihrer Vorstellung von Jugend und Gesundheit sucht, das Schönheitsideal, das Sexsymbol: daß sie dann an Frauen wie Nicole Kidman oder Julianne Moore denkt, an Männer wie George Clooney oder Hugh Grant - an Menschen also, die mindestens Ende Dreißig und meistens älter als vierzig sind. Und da unser Schönheitsideal, wie jeder Blick auf alte Bilder beweist, nicht gealtert ist, bleibt nur eine Folgerung: Jene, die es verkörpern, sind jünger geworden, jünger, als es Menschen jenseits der Dreißig jemals waren.
Manchmal merkt ein altmodischer Mensch, daß irgend etwas hier nicht stimmen kann. Jener Schreiber eines britischen Filmmagazins zum Beispiel, der neulich ein Pamphlet verfaßte, das auf die Forderung hinauslief: "Mädels, werdet endlich erwachsen!" Dem Mann war aufgefallen, daß Schauspielerinnen in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern, weibliche Stars wie Wynona Rider oder Kate Winslet, einfach nicht aufhören können, die Mädchen zu spielen, unreife Personen, die vorwiegend mit sich selber beschäftigt sind, mit ihren kleinen, gymnasiastinnenhaften Liebesgeschichten und den pubertären Zweifeln am Sinn einer bürgerlichen Existenz, statt Verantwortung zu übernehmen oder so würdig zu leiden, wie das erwachsene Frauen tun. In eurem Alter, so rief der Kritiker, haben Frauen wie Lauren Bacall oder Marlene Dietrich ganz andere Rollen gespielt: Frauen, die eine Vergangenheit hatten und ein Schicksal, Frauen, die sich kaum daran erinnern konnten, daß sie mal junge Mädchen waren.
Der Mann hatte recht - und doch hatte er das Wichtigste übersehen. Die Rollen, welche Lauren Bacall mit neunundzwanzig spielte, sind ja nicht verschwunden. Sie werden nur heute mit Frauen besetzt, die zehn bis zwanzig Jahre älter sind, mit Julianne Moore, mit Sharon Stone - mit Frauen also, die vorne eine große Vier stehen haben. Für die Müttergeneration gab es jenseits der Vierzig bloß noch die grauhaarigen Rollen, die Tante des Helden oder seine Chefin, die von ihm Respekt wollte, einen Blumenstrauß - während Quentin Tarantino in "Kill Bill" die Rolle einer professionellen Killerin, die zwar vorwiegend mit Schwertern und Pistolen ihren Job erledigt, die aber im entscheidenden Moment ihren Sex als die allerschärfste Waffe entsichert, mit der dreiundvierzigjährigen Daryl Hannah besetzt, einer blonden Schönheit, die zum Filmstart, um ihre Eignung zu beweisen, ein paar hübsche Fotos von sich im "Playboy" plazierte.
Im Jahr 1968 kam ein Film in die Kinos, der dem Publikum all das bot, was damals für jung und schick galt. Es gab Schauplätze in New York und der Karibik, es gab Kleider, die waren so knapp geschnitten, daß man sich fragte: Wie sind die Leute da hineingekommen, und, vor allem, wie kommen sie wieder heraus? Es gab eine Geschichte, die eher ambitioniert als spannend war; sie erzählte beiläufig vom perfekten Raub, und sehr konzentriert erzählte sie von einem Mann und einer Frau, die einander unwiderstehlich finden, obwohl sie eigentlich gegeneinander arbeiten - und natürlich konnte diese Story nur funktionieren, wenn man die Hauptrollen mit Schauspielern besetzte, deren Sexappeal unabweisbar war.
Den Mann spielte Steve McQueen, die Frau spielte Faye Dunaway, der Film hieß "The Thomas Crown Affair" - und im Jahr 1999, also einunddreißig Jahre danach, war die Zeit reif für eine aktualisierte Version. Wieder sah man exquisite Wohnungen, teure Garderoben, lässige Gesten, und wieder erzählte der Film davon, wie ein attraktiver Mann den perfekten Raub plant und wie eine schöne Frau ihn daran hindern will - und wieder ging es bald nur noch darum, daß die beiden ihren Zweikampf dort fortsetzen, wo ein Unentschieden schon in Ordnung geht, im Bett. Die Hauptrollen spielten Rene Russo und Pierce Brosnan - und was in diesem Film so neu war, das offenbart ein Blick auf die Geburtsdaten. Im Jahr 1968 war Faye Dunaway 27 Jahre alt, Steve McQueen war 38. Im Jahr 1999 war Rene Russo 45 Jahre alt, Pierce Brosnan war 46. Und daß Mrs.Russo in den Szenen auf der Palmeninsel nicht mehr anhatte als ein Bikinihöschen, war fürs Verständnis nicht unbedingt nötig, es belegte aber, wie ernst es ihr mit der Rolle war.
Die Grenzen der Jugend haben sich offenbar innerhalb von nur dreißig Jahren, in jenem Zeitraum also, den man früher "eine Generation" genannt hätte, um mehr als zehn Jahre nach hinten verschoben. Jung sein, das war mal etwas, das spätestens mit dem dreißigsten Geburtstag vorbei war, und spätestens kurz nach dem vierzigsten war die Zeit gekommen, da blieb man an dem Ort, wo man war, verabschiedete allmählich die Kinder, begrüßte die grauen Haare und fing an, sich ans Rückwärtszählen zu gewöhnen: noch zwanzig, neunzehn, achtzehn Jahre bis zum Ruhestand. Jung sein, das ist heute eine Möglichkeit, die jedem offensteht, ganz egal, wie alt er ist.
Es gibt natürlich Menschen, denen geht die ganze Richtung gegen den Strich, und besonders heftig hat im Frühjahr 2004 der Publizist Joseph Epstein protestiert, in einem Beitrag, für den das konservative Intelligenzblatt "Weekly Standard" den Titel hatte: "Der ewige Heranwachsende. Und der Triumph der Jugendkultur". Das Leben, sagt Epstein, müsse gefälligst, wie ein aristotelisches Drama, einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß haben, und zwar genau in dieser Reihenfolge, und die Lebensmitte, die Hauptsache also und der Höhepunkt, fehle jenen, die nicht begriffen, daß Jugend bloß ein vorübergehender Zustand sei, das kurze Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Erwachsen, sagt Epstein, ist einer, der einsieht, daß er nicht alles haben kann, was er will - und insofern seien jene Manager, die mit ihrer Gier die Ölfirma Enron ins Desaster steuerten, genauso ein Beleg für seine These wie der Präsident Bill Clinton: lauter Erwachsene, die sich wie verdammte Grünschnäbel aufführen, weil sie zuviel Rock'n'Roll gehört und die falschen Bücher gelesen haben.
Denn die Kultur, sagt Epstein, ist die Urheberin dieses Skandals und zugleich dessen deutlichster Ausdruck: Von Salingers "Fänger im Roggen" bis zur Fernsehserie "Friends", von der Popmusik bis zu den Rollen, die Anfangsvierziger wie Hugh Grant oder Jim Carrey im Kino spielen - unsere populäre Kultur predige die Jugend als Natur- und Idealzustand des Menschen und verdamme das Älterwerden als die Sünde der Selbstentfremdung.
Vom Jugendwahn besessen, perpetuierten die Erwachsenen ihre eigene Jugendlichkeit bis an die Grenze zum Rentenalter; sie schwömmen (wie Kierkegaard das genannt hat) durchs "Meer des Möglichen" und weigerten sich, endlich an Land zu gehen. Erschwerend komme hinzu, daß jene, die die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre oder den Zweiten Weltkrieg erlebt hätten, langsam ausstürben. Wer aber ohne solche Krisen aufgewachsen sei, habe den Ernst des Lebens niemals kennengelernt; wer nie die Angst vor dem Tod gespürt und überwunden habe: So einem fehle die Fähigkeit, das Ernste vom Unernsten, das Wichtige vom Überflüssigen zu unterscheiden.
Als ich das alles gelesen hatte, rief ich Leo an und fragte ihn, ob er vielleicht jemanden kenne, der erwachsen sei. Leo lachte und sagte: "Ich bin sehr erwachsen. Erwachsener, als ich es bin, kann man nicht sein. Ich verdiene Geld und zahle Steuern. Ich arbeite viel, trinke kaum und rauche manchmal abends eine Zigarette. Ich führe ein gemäßigtes Leben. Und ich sorge für meine kleine Tochter."
"Aber du lebst nicht mit ihrer Mutter zusammen. Du knutschst mit Frauen, in die du nicht verliebt bist, und verliebst dich in Frauen, die nicht bei dir bleiben. Du kaufst die neuesten Schallplatten. Du sammelst alte Schallplatten. Du ziehst manchmal einen Anzug an, aber niemals eine Krawatte. Du willst wissen, wo die schicken Partys sind. Das ist ein schönes Leben, aber erzähl mir doch nicht, daß das erwachsen ist!"
"Was willst du eigentlich von mir?" fragte Leo. "Willst du, daß ich mit einer Frau, die ich nicht liebe, Kinder zeuge, die wir dann mit Fernsehverbot und Hausarrest erziehen? Willst du, daß ich dreißig Kilometer von der Stadtmitte entfernt in ein Reihenhaus ziehe, samstags meinen Volvo wasche und abends nach den ,Tagesthemen' vor dem Fernseher einschlafe? Oder wünschst du dir vielleicht, daß ein Krieg kommt oder eine Hungersnot, damit wir endlich das wahre Leben kennenlernen? Tut mir leid, ich will das nicht. Mir ist mein Leben auch so schon wahr genug."
Leo, das muß hier gesagt werden, ist Künstler von Beruf, er ist in jenem Milieu zu Hause, das man noch immer die Boheme nennt, und die Vermutung, daß irgend etwas an seinem Lebensstil repräsentativ sei, würde Leo empört zurückweisen. Auch eine Hollywoodschauspielerin, deren Tage mit Ayurveda beginnen und mit Mineralwasser zu Ende gehen, hat ziemlich wenig gemein mit einer gleichaltrigen Rechtsanwältin, Sekretärin oder einer Mutter von zwei kleinen Kindern, mit Frauen also, die außer der Arbeit an ihrer eigenen Schönheit noch ein paar andere Sorgen haben.
Neulich bin ich hinausgefahren an den Ort, vor welchem Leo sich so fürchtet, mit der S-Bahn, zwanzig Kilometer vor die Stadt. Ich habe eine Frau besucht, die Anfang Vierzig ist; sie wohnt mit ihrem Mann und den beiden Kindern aus ihrer ersten Ehe in einem kleinen Haus, und als wir beim Mittagessen saßen, war Leos Boheme weit mehr als zwanzig Kilometer entfernt. Es gab Hühnersuppe und Apfelschorle, die Kinder erzählten von der Schule, der Mann war im Büro, und nach dem Essen nahmen wir unsere Kaffeebecher in die Hand und rauchten im Garten eine Zigarette. Wir sprachen über die Noten der Kinder, die Fortschritte beim Musikunterricht und den Skiurlaub, der in diesem Jahr noch teurer werden würde, vor allem aber sprachen wir über ihre Zukunftspläne, es gab einen Plan für ihren Halbtagsjob und einen für das Haus, es gab natürlich hundert Pläne für die Kinder, und wie die Frau, diese Halbtagshausfrau und Ganztagsmutter, mir gegenüberstand, hübsch, mit einem mädchenhaften Lächeln, in Jeans, Turnschuhen und von der Zukunft viel mehr beansprucht als von dem bißchen Vergangenheit, das man mit Anfang Vierzig hat: spätestens da war offensichtlich, daß auch ihr Leben eher einer Baustelle glich als einer festen Burg. Auch ihre Uhr ging anders als die ihrer Mutter, was ich schon deshalb weiß, weil die Frau meine Schwester ist. Und so wie ihr geht es wohl den meisten, die ein unspektakuläres Leben führen, und erst auf den zweiten Blick stellt man fest, daß sie jünger aussehen, sich fühlen und benehmen, als das in den alten Biographiefahrplänen vorgesehen ist.
Sie alle haben an der Revolution der Lebensläufe teilgenommen - und wenn so einer, der heute dreißig, vierzig oder fünfzig ist, zurückblickt auf all die Jahre, in denen er älter wurde und doch jung geblieben ist, dann tut er sich sehr schwer damit, zu sagen, ob er Täter, Opfer oder bloß Zeuge bei diesem Umsturz war. Die Revolution, die in vollem Gange ist, kommt ohne Manifeste, ohne Führer, ohne Forderungen und ohne Guillotinen aus, es ist kein Blut geflossen, und niemand wurde an die Wand gestellt. Und doch sieht es so aus, als ob diese Revolution unser Leben ebenso unwiderruflich verändern würde, wie das die Französische und die Russische Revolution mit dem Leben der Franzosen und Russen taten.
Was gestürzt wurde, war keine Klasse, keine herrschende Clique - und doch waren es die Verhältnisse, die immer auch Machtverhältnisse sind. Was gestürzt wurde, war die Macht der Altersstrukturen und die Herrschaft der alten Lebensblaupausen, was verschwand, war der blinde Glaube, daß die Jugend spätestens mit dreißig zu Ende sei, ja der Glaube, daß Jugend überhaupt ein Ende haben müsse - und daß die Revolution von so wenig Lärm begleitet wird, dafür gibt es zwei Gründe: Erstens haben sich die Revolutionäre nicht zu großen Massen zusammenrotten müssen; das revolutionäre Subjekt ist jeder einzelne, der mit dreißig, vierzig, fünfundvierzig beschließt, im Meer des Möglichen noch ein bißchen herumzuplanschen und den Landgang bis auf weiteres zu verschieben. Daß die anderen ganz genauso handeln, nimmt man zwar wahr; es ist für die eigenen Entscheidungen aber keine notwendige Voraussetzung. Anders als bei jeder Revolution zuvor, welche Sieger und Besiegte, Rebellen und Gestürzte gemeinsam erlebten, ist bei dieser Revolution der Revolutionär ganz für sich allein.
Und zweitens sieht es ganz so aus, als wären bei diesem Umsturz keine Opfer zu beklagen. Wenn man, bis auf weiteres jedenfalls, die Arbeitshypothese von Joseph Epstein, wonach die allgemeine Infantilisierung und der sogenannte Jugendwahn die Ursachen nahezu aller Übel der Gegenwart seien, nicht akzeptieren möchte, dann bleiben eigentlich nur noch gute Nachrichten. Alle werden jünger, alle sehen besser aus, allen geht es besser. Daß die Lage nicht ganz so einfach zu beschreiben und auch nicht ganz so rosig ist, das werden wir noch sehen.
Text: F.A.Z., 17.02.2005, Nr. 40 / Seite 42
Der blinde Glaube, die Jugend sei im Alter von dreißig Jahren beendet, ist gebrochen: Zur Geschichte eines lautlosen Umsturzes, der uns alle ergriffen hat/Von Claudius Seidl
An dem Tag, an dem ich vierzig wurde, wachte ich, weil ich hineingefeiert hatte, mit einem Kater auf, trank, als Gegengift, eine halbe Flasche Wasser und vier Tassen starken, schwarzen Kaffees, zog einen grauen Sommeranzug, aber keine Strümpfe an, krempelte die Hosen hoch, fuhr mit dem Rad zur Arbeit, beschimpfte unterwegs ein paar Autofahrer, die den Radweg blockierten, fing auf der ersten Konferenz des Tages einen Streit mit meinem Vorgesetzten an, machte später, als der Personalchef mit einer Flasche Champagner kam, die ich, so sein Vorschlag, am Abend trinken sollte, ein paar Scherze auf seine Kosten und öffnete den Champagner gleich, ging am Mittag essen mit Kollegen, die ich Jungs nannte, lachte über ihre Scherze, die auf meine Kosten gingen, schaute auf dem Rückweg, weil es Sommer war, den kurzen Sommerkleidern hinterher, legte meine Füße auf den Schreibtisch und blieb, weil es soviel zu tun gab und die Arbeit eigentlich ein Vergnügen war, viel zu lange im Büro, legte mich am Abend aufs Sofa und hörte sehr laute Soulmusik, sagte allen, die anriefen und mir gratulierten, es gehe mir gut, trank einen kleinen Whisky und küßte meine Frau und sagte zu ihr: Ich habe ein gutes Leben. Warum macht es mich trotzdem traurig? Warum werde ich das Gefühl nicht los, daß ich zehn Jahre zu alt für dieses Leben bin?
Du bist fünfzehn Jahre zu alt, sagte sie, aber jedes andere Leben würde dich noch trauriger machen.
Als sie schlief, lag ich noch lange wach und nahm mir vor, demnächst einmal konzentriert über mein Alter nachzudenken. Morgen, übermorgen, an einem Tag, an dem ich ausgeschlafen haben würde.
*
Gegen Mittag rief endlich Leo an, um mir alles zu erzählen - seine Botschaft war, daß es nichts zu erzählen gab. "Es war ein Flop", sagte Leo, "du hast nichts versäumt, sei froh, daß du nicht mitgegangen bist."
Leo hatte mir die Party des Monats versprochen, am Nachmittag davor, als er seinen Abend plante: "Komm mit", hatte er gesagt, "wir werden schöne Menschen sehen, vor allem Frauen, wunderbare Frauen." Eine neue Zeitschrift wurde vorgestellt, die Einladungskarten waren schwarz und schick, ich konnte aber nicht, ich durfte nicht mit, ich mußte aufstehen am nächsten Morgen. "Die Frauen", sagte trotzdem Leo, "die großen, schlanken Frauen in ihren spitzen Prada-Pumps. Du mußt wissen, was du dir entgehen läßt."
"Waren sie da, die schönen Frauen?" fragte ich Leo am Telefon.
"Sie waren da. Das glaube ich jedenfalls. Es war so dunkel auf dieser Party, daß ich sie nicht richtig sehen konnte. Und so laut war es, daß ich sie nicht ansprechen konnte. Idiotenparty." Er sei, sagte Leo, wie alle anderen dumm herumgestanden, er habe ein bißchen getrunken, alle Angebote zu illegalen Drogen ausgeschlagen - und dann habe er doch noch mit Heike geknutscht, der Drehbuchschreiberin, die er seit Monaten kenne und die dann doch nicht mit zu ihm gegangen sei, was aber, wie Leo schwor, ihm letztlich auch egal gewesen sei. Verliebt sei er eh nicht in sie, und nachts müsse er noch immer an Sabine denken, die arrogante Sabine, die ihn vor einem Monat verlassen hatte und zu ihrem Freund zurückgekehrt war.
Das war also die Nacht, die ich verschlafen hatte: eine ganz normale Freitagnacht, eine Party- und Flirtnacht, eine Whiskynacht, genau das, was einer am Ende der Woche eben braucht - wenn er neunzehn oder fünfundzwanzig ist.
Leo ist im Herbst dreiundvierzig geworden, und er hält, was er so in seiner Freizeit tut, für seinem Alter absolut angemessen. Seine Freunde leben auch nicht anders, er kennt kaum jemanden, der sich für eine solche Nacht zu alt und zu erwachsen fühlte. Und wie neu und ungeheuerlich das ist, wie revolutionär und wundersam: Das erkennt man womöglich erst dann, wenn man kurz zurückblendet in der Zeit, ein halbes Jahrhundert ungefähr, ins Jahr 1952, als ein sehr komischer Film von Howard Hawks in die Kinos kam - eine Komödie, deren visionäre Kraft sich erst heute offenbart. "Monkey Business" hieß der Film im Original; der deutsche Titel war "Liebling, ich werde jünger", und Cary Grant spielte darin den Mann, der die Formel für die ewige Jugend entdeckt: ein Serum, das jeden jünger werden läßt.
Grant war hier ein seriöser Herr von Anfang Vierzig, verheiratet, bebrillt und immer korrekt gekleidet - bis er, aus Versehen, von dem Serum trank. Erst spürte er bloß ein albernes Gefühl. Dann ließ er sich die Haare zur Bürste schneiden. Er kaufte einen Sportwagen mit offenem Verdeck. Und dann setzte er die junge Marilyn Monroe auf den Beifahrersitz, drückte aufs Gaspedal, und Marilyn Monroe kreischte vor Vergnügen.
Ein Mann in seinen Vierzigern, der sich so aufführt, als blieben ihm bis zum Erwachsenwerden noch zehn Jahre Zeit: Das war vor fünfzig Jahren lächerlich, und bis in die achtziger Jahre hinein blieb Howard Hawks' Komödie ein Renner im Sonntagnachmittagsfernsehprogramm.
Heute bekommt man den Film kaum noch zu sehen - was wohl vor allem daran liegt, daß seinen Gags die Grundlage entzogen wurde. Was damals lustig wirkte, ist heute der Normalzustand. Wir sollten uns "Liebling, ich werde jünger" nicht bloß als Komödie, sondern als Science-fiction vorstellen - in der Zukunft, wie sie dieser Film beschreibt, sind wir längst angekommen.
Der Vierzigjährige, der sich noch immer halbstark fühlt und kleidet und benimmt, ist der repräsentative Bewohner unserer Gegenwart. Er begegnet uns in der U-Bahn, in der Bankfiliale und am Arbeitsplatz, im Stammlokal und natürlich auf allen Leinwänden. Er fällt nicht auf, weil es fast nur noch seinesgleichen gibt.
Und natürlich ist dieser repräsentative Zeitgenosse in fünfzig Prozent aller Fälle eine Frau - und was sich da verändert, ja welche Revolution die Verhältnisse erschüttert hat: Das zeigt sich überdeutlich, wenn wir noch einmal zurückblenden in den Film. Nach Cary Grant kostet auch seine Frau vom Jugendlichkeitsserum, und diese Frau spielte Ginger Rogers, die zur Zeit der Dreharbeiten vierzig Jahre alt war. Sie war in den dreißiger Jahren der größte Star des Filmmusicals gewesen, eine schöne, starke Frau mit einem breiten Mund und strahlenden Augen, eine atemberaubende Tänzerin, die Partnerin von Fred Astaire, die Hälfte eines Traumpaars, über das man sagte: "She gave him sex, he gave her class." Aber Ginger Rogers war älter geworden, sie war ideal besetzt als Ehefrau, sie trug Röcke, die das Knie bedeckten, und sah aus, als könnte sie den perfekten Truthahn zubereiten. Nur jung sah sie überhaupt nicht aus - und wenn sie im Film das Wundermittel nimmt und anfängt, sich wie ein Mädchen zu benehmen, albern, sexy, kokett: Da tut einem Ginger Rogers eher leid, als daß man über sie lachen möchte. Sie sieht alt und ein bißchen unglücklich aus, wenn sie sich wie eine Jugendliche gibt. Und wenn die Wirkung verflogen ist, möchte man sich bei dem Film bedanken, im Namen von Ginger Rogers.
Offenbar wirkt das Serum, das uns Zeitgenossen injiziert worden ist, viel stärker und viel nachhaltiger. Es hat nicht bloß das Befinden verjüngt, es verändert auch die Körper. Eine Frau, die so aussieht wie Ginger Rogers in dem Film, würden wir heute auf Anfang Fünfzig schätzen. Eine Frau von Vierzig dagegen, die sich mit den Insignien der Jugendlichkeit schmückt, fällt im schlimmsten Fall überhaupt nicht auf. Und im besten eher angenehm. Sie ist die Regel, nicht die Ausnahme - mit welchem Alter die Jugend endet, war noch nie so ungewiß wie heute.
Sicher ist nur, daß unsere Gesellschaft, wenn sie ihr Selbstporträt anfertigt und wenn sie nach der perfekten Verkörperung ihrer Vorstellung von Jugend und Gesundheit sucht, das Schönheitsideal, das Sexsymbol: daß sie dann an Frauen wie Nicole Kidman oder Julianne Moore denkt, an Männer wie George Clooney oder Hugh Grant - an Menschen also, die mindestens Ende Dreißig und meistens älter als vierzig sind. Und da unser Schönheitsideal, wie jeder Blick auf alte Bilder beweist, nicht gealtert ist, bleibt nur eine Folgerung: Jene, die es verkörpern, sind jünger geworden, jünger, als es Menschen jenseits der Dreißig jemals waren.
Manchmal merkt ein altmodischer Mensch, daß irgend etwas hier nicht stimmen kann. Jener Schreiber eines britischen Filmmagazins zum Beispiel, der neulich ein Pamphlet verfaßte, das auf die Forderung hinauslief: "Mädels, werdet endlich erwachsen!" Dem Mann war aufgefallen, daß Schauspielerinnen in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern, weibliche Stars wie Wynona Rider oder Kate Winslet, einfach nicht aufhören können, die Mädchen zu spielen, unreife Personen, die vorwiegend mit sich selber beschäftigt sind, mit ihren kleinen, gymnasiastinnenhaften Liebesgeschichten und den pubertären Zweifeln am Sinn einer bürgerlichen Existenz, statt Verantwortung zu übernehmen oder so würdig zu leiden, wie das erwachsene Frauen tun. In eurem Alter, so rief der Kritiker, haben Frauen wie Lauren Bacall oder Marlene Dietrich ganz andere Rollen gespielt: Frauen, die eine Vergangenheit hatten und ein Schicksal, Frauen, die sich kaum daran erinnern konnten, daß sie mal junge Mädchen waren.
Der Mann hatte recht - und doch hatte er das Wichtigste übersehen. Die Rollen, welche Lauren Bacall mit neunundzwanzig spielte, sind ja nicht verschwunden. Sie werden nur heute mit Frauen besetzt, die zehn bis zwanzig Jahre älter sind, mit Julianne Moore, mit Sharon Stone - mit Frauen also, die vorne eine große Vier stehen haben. Für die Müttergeneration gab es jenseits der Vierzig bloß noch die grauhaarigen Rollen, die Tante des Helden oder seine Chefin, die von ihm Respekt wollte, einen Blumenstrauß - während Quentin Tarantino in "Kill Bill" die Rolle einer professionellen Killerin, die zwar vorwiegend mit Schwertern und Pistolen ihren Job erledigt, die aber im entscheidenden Moment ihren Sex als die allerschärfste Waffe entsichert, mit der dreiundvierzigjährigen Daryl Hannah besetzt, einer blonden Schönheit, die zum Filmstart, um ihre Eignung zu beweisen, ein paar hübsche Fotos von sich im "Playboy" plazierte.
Im Jahr 1968 kam ein Film in die Kinos, der dem Publikum all das bot, was damals für jung und schick galt. Es gab Schauplätze in New York und der Karibik, es gab Kleider, die waren so knapp geschnitten, daß man sich fragte: Wie sind die Leute da hineingekommen, und, vor allem, wie kommen sie wieder heraus? Es gab eine Geschichte, die eher ambitioniert als spannend war; sie erzählte beiläufig vom perfekten Raub, und sehr konzentriert erzählte sie von einem Mann und einer Frau, die einander unwiderstehlich finden, obwohl sie eigentlich gegeneinander arbeiten - und natürlich konnte diese Story nur funktionieren, wenn man die Hauptrollen mit Schauspielern besetzte, deren Sexappeal unabweisbar war.
Den Mann spielte Steve McQueen, die Frau spielte Faye Dunaway, der Film hieß "The Thomas Crown Affair" - und im Jahr 1999, also einunddreißig Jahre danach, war die Zeit reif für eine aktualisierte Version. Wieder sah man exquisite Wohnungen, teure Garderoben, lässige Gesten, und wieder erzählte der Film davon, wie ein attraktiver Mann den perfekten Raub plant und wie eine schöne Frau ihn daran hindern will - und wieder ging es bald nur noch darum, daß die beiden ihren Zweikampf dort fortsetzen, wo ein Unentschieden schon in Ordnung geht, im Bett. Die Hauptrollen spielten Rene Russo und Pierce Brosnan - und was in diesem Film so neu war, das offenbart ein Blick auf die Geburtsdaten. Im Jahr 1968 war Faye Dunaway 27 Jahre alt, Steve McQueen war 38. Im Jahr 1999 war Rene Russo 45 Jahre alt, Pierce Brosnan war 46. Und daß Mrs.Russo in den Szenen auf der Palmeninsel nicht mehr anhatte als ein Bikinihöschen, war fürs Verständnis nicht unbedingt nötig, es belegte aber, wie ernst es ihr mit der Rolle war.
Die Grenzen der Jugend haben sich offenbar innerhalb von nur dreißig Jahren, in jenem Zeitraum also, den man früher "eine Generation" genannt hätte, um mehr als zehn Jahre nach hinten verschoben. Jung sein, das war mal etwas, das spätestens mit dem dreißigsten Geburtstag vorbei war, und spätestens kurz nach dem vierzigsten war die Zeit gekommen, da blieb man an dem Ort, wo man war, verabschiedete allmählich die Kinder, begrüßte die grauen Haare und fing an, sich ans Rückwärtszählen zu gewöhnen: noch zwanzig, neunzehn, achtzehn Jahre bis zum Ruhestand. Jung sein, das ist heute eine Möglichkeit, die jedem offensteht, ganz egal, wie alt er ist.
Es gibt natürlich Menschen, denen geht die ganze Richtung gegen den Strich, und besonders heftig hat im Frühjahr 2004 der Publizist Joseph Epstein protestiert, in einem Beitrag, für den das konservative Intelligenzblatt "Weekly Standard" den Titel hatte: "Der ewige Heranwachsende. Und der Triumph der Jugendkultur". Das Leben, sagt Epstein, müsse gefälligst, wie ein aristotelisches Drama, einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß haben, und zwar genau in dieser Reihenfolge, und die Lebensmitte, die Hauptsache also und der Höhepunkt, fehle jenen, die nicht begriffen, daß Jugend bloß ein vorübergehender Zustand sei, das kurze Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Erwachsen, sagt Epstein, ist einer, der einsieht, daß er nicht alles haben kann, was er will - und insofern seien jene Manager, die mit ihrer Gier die Ölfirma Enron ins Desaster steuerten, genauso ein Beleg für seine These wie der Präsident Bill Clinton: lauter Erwachsene, die sich wie verdammte Grünschnäbel aufführen, weil sie zuviel Rock'n'Roll gehört und die falschen Bücher gelesen haben.
Denn die Kultur, sagt Epstein, ist die Urheberin dieses Skandals und zugleich dessen deutlichster Ausdruck: Von Salingers "Fänger im Roggen" bis zur Fernsehserie "Friends", von der Popmusik bis zu den Rollen, die Anfangsvierziger wie Hugh Grant oder Jim Carrey im Kino spielen - unsere populäre Kultur predige die Jugend als Natur- und Idealzustand des Menschen und verdamme das Älterwerden als die Sünde der Selbstentfremdung.
Vom Jugendwahn besessen, perpetuierten die Erwachsenen ihre eigene Jugendlichkeit bis an die Grenze zum Rentenalter; sie schwömmen (wie Kierkegaard das genannt hat) durchs "Meer des Möglichen" und weigerten sich, endlich an Land zu gehen. Erschwerend komme hinzu, daß jene, die die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre oder den Zweiten Weltkrieg erlebt hätten, langsam ausstürben. Wer aber ohne solche Krisen aufgewachsen sei, habe den Ernst des Lebens niemals kennengelernt; wer nie die Angst vor dem Tod gespürt und überwunden habe: So einem fehle die Fähigkeit, das Ernste vom Unernsten, das Wichtige vom Überflüssigen zu unterscheiden.
Als ich das alles gelesen hatte, rief ich Leo an und fragte ihn, ob er vielleicht jemanden kenne, der erwachsen sei. Leo lachte und sagte: "Ich bin sehr erwachsen. Erwachsener, als ich es bin, kann man nicht sein. Ich verdiene Geld und zahle Steuern. Ich arbeite viel, trinke kaum und rauche manchmal abends eine Zigarette. Ich führe ein gemäßigtes Leben. Und ich sorge für meine kleine Tochter."
"Aber du lebst nicht mit ihrer Mutter zusammen. Du knutschst mit Frauen, in die du nicht verliebt bist, und verliebst dich in Frauen, die nicht bei dir bleiben. Du kaufst die neuesten Schallplatten. Du sammelst alte Schallplatten. Du ziehst manchmal einen Anzug an, aber niemals eine Krawatte. Du willst wissen, wo die schicken Partys sind. Das ist ein schönes Leben, aber erzähl mir doch nicht, daß das erwachsen ist!"
"Was willst du eigentlich von mir?" fragte Leo. "Willst du, daß ich mit einer Frau, die ich nicht liebe, Kinder zeuge, die wir dann mit Fernsehverbot und Hausarrest erziehen? Willst du, daß ich dreißig Kilometer von der Stadtmitte entfernt in ein Reihenhaus ziehe, samstags meinen Volvo wasche und abends nach den ,Tagesthemen' vor dem Fernseher einschlafe? Oder wünschst du dir vielleicht, daß ein Krieg kommt oder eine Hungersnot, damit wir endlich das wahre Leben kennenlernen? Tut mir leid, ich will das nicht. Mir ist mein Leben auch so schon wahr genug."
Leo, das muß hier gesagt werden, ist Künstler von Beruf, er ist in jenem Milieu zu Hause, das man noch immer die Boheme nennt, und die Vermutung, daß irgend etwas an seinem Lebensstil repräsentativ sei, würde Leo empört zurückweisen. Auch eine Hollywoodschauspielerin, deren Tage mit Ayurveda beginnen und mit Mineralwasser zu Ende gehen, hat ziemlich wenig gemein mit einer gleichaltrigen Rechtsanwältin, Sekretärin oder einer Mutter von zwei kleinen Kindern, mit Frauen also, die außer der Arbeit an ihrer eigenen Schönheit noch ein paar andere Sorgen haben.
Neulich bin ich hinausgefahren an den Ort, vor welchem Leo sich so fürchtet, mit der S-Bahn, zwanzig Kilometer vor die Stadt. Ich habe eine Frau besucht, die Anfang Vierzig ist; sie wohnt mit ihrem Mann und den beiden Kindern aus ihrer ersten Ehe in einem kleinen Haus, und als wir beim Mittagessen saßen, war Leos Boheme weit mehr als zwanzig Kilometer entfernt. Es gab Hühnersuppe und Apfelschorle, die Kinder erzählten von der Schule, der Mann war im Büro, und nach dem Essen nahmen wir unsere Kaffeebecher in die Hand und rauchten im Garten eine Zigarette. Wir sprachen über die Noten der Kinder, die Fortschritte beim Musikunterricht und den Skiurlaub, der in diesem Jahr noch teurer werden würde, vor allem aber sprachen wir über ihre Zukunftspläne, es gab einen Plan für ihren Halbtagsjob und einen für das Haus, es gab natürlich hundert Pläne für die Kinder, und wie die Frau, diese Halbtagshausfrau und Ganztagsmutter, mir gegenüberstand, hübsch, mit einem mädchenhaften Lächeln, in Jeans, Turnschuhen und von der Zukunft viel mehr beansprucht als von dem bißchen Vergangenheit, das man mit Anfang Vierzig hat: spätestens da war offensichtlich, daß auch ihr Leben eher einer Baustelle glich als einer festen Burg. Auch ihre Uhr ging anders als die ihrer Mutter, was ich schon deshalb weiß, weil die Frau meine Schwester ist. Und so wie ihr geht es wohl den meisten, die ein unspektakuläres Leben führen, und erst auf den zweiten Blick stellt man fest, daß sie jünger aussehen, sich fühlen und benehmen, als das in den alten Biographiefahrplänen vorgesehen ist.
Sie alle haben an der Revolution der Lebensläufe teilgenommen - und wenn so einer, der heute dreißig, vierzig oder fünfzig ist, zurückblickt auf all die Jahre, in denen er älter wurde und doch jung geblieben ist, dann tut er sich sehr schwer damit, zu sagen, ob er Täter, Opfer oder bloß Zeuge bei diesem Umsturz war. Die Revolution, die in vollem Gange ist, kommt ohne Manifeste, ohne Führer, ohne Forderungen und ohne Guillotinen aus, es ist kein Blut geflossen, und niemand wurde an die Wand gestellt. Und doch sieht es so aus, als ob diese Revolution unser Leben ebenso unwiderruflich verändern würde, wie das die Französische und die Russische Revolution mit dem Leben der Franzosen und Russen taten.
Was gestürzt wurde, war keine Klasse, keine herrschende Clique - und doch waren es die Verhältnisse, die immer auch Machtverhältnisse sind. Was gestürzt wurde, war die Macht der Altersstrukturen und die Herrschaft der alten Lebensblaupausen, was verschwand, war der blinde Glaube, daß die Jugend spätestens mit dreißig zu Ende sei, ja der Glaube, daß Jugend überhaupt ein Ende haben müsse - und daß die Revolution von so wenig Lärm begleitet wird, dafür gibt es zwei Gründe: Erstens haben sich die Revolutionäre nicht zu großen Massen zusammenrotten müssen; das revolutionäre Subjekt ist jeder einzelne, der mit dreißig, vierzig, fünfundvierzig beschließt, im Meer des Möglichen noch ein bißchen herumzuplanschen und den Landgang bis auf weiteres zu verschieben. Daß die anderen ganz genauso handeln, nimmt man zwar wahr; es ist für die eigenen Entscheidungen aber keine notwendige Voraussetzung. Anders als bei jeder Revolution zuvor, welche Sieger und Besiegte, Rebellen und Gestürzte gemeinsam erlebten, ist bei dieser Revolution der Revolutionär ganz für sich allein.
Und zweitens sieht es ganz so aus, als wären bei diesem Umsturz keine Opfer zu beklagen. Wenn man, bis auf weiteres jedenfalls, die Arbeitshypothese von Joseph Epstein, wonach die allgemeine Infantilisierung und der sogenannte Jugendwahn die Ursachen nahezu aller Übel der Gegenwart seien, nicht akzeptieren möchte, dann bleiben eigentlich nur noch gute Nachrichten. Alle werden jünger, alle sehen besser aus, allen geht es besser. Daß die Lage nicht ganz so einfach zu beschreiben und auch nicht ganz so rosig ist, das werden wir noch sehen.
Text: F.A.Z., 17.02.2005, Nr. 40 / Seite 42
junge - 17. Feb, 17:06
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