Aktuelles

Freitag, 18. Februar 2005

Capitol-Blick, Durchblick?

SEC-Kommissare rangeln um Büros
Der Blick auf das Kapitol ist in Washington ein Statussymbol/Umzug in die neue Zentrale


nks. NEW YORK, 17. Februar. Die fünf Kommissionsmitglieder der amerikanischen Börsenaufsicht SEC hatten in den vergangenen Jahren wahrlich richtungweisende Entscheidungen zu treffen. Es ging um verschärfte Bilanzierungsregeln, die Kontrolle milliardenschwerer Hedge Fonds oder die Höhe der Strafe für Investmentbanken, deren Geschäftspraktiken zu wünschen übrigließen. Schon dabei herrschte innerhalb der Kommission selten Einigkeit. Unter der Ägide des derzeitigen SEC-Vorsitzenden William Donaldson wurden nur 1,5 Prozent der Entscheidungen einstimmig getroffen.


Bei ihrem jüngsten Disput deutet sich auch keine Einstimmigkeit der Kommissare an, obwohl das Thema auf eine gewisse Weise ebenfalls richtungweisend ist. Es geht nämlich um die Blickrichtung ihrer eigenen Büros. Die SEC zieht innerhalb Washingtons um, und in der neuen Zentrale wird nicht mehr jeder Kommissar ein Büro mit Blick auf das Kapitol besitzen.

Chairman Donaldson hat gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg eingeräumt, daß der Umzug eine heikle Angelegenheit ist. "Wer jemals einen Büroumzug mitgemacht hat, weiß, daß es zum heißen Thema wird. Wir werden keine Ausnahme sein", hatte Donaldson Ende Januar gesagt. Bis jetzt ist bei der SEC immer noch keine Entscheidung darüber gefallen, hieß es. Der Umzug steht im März an.

Die SEC zieht um, obwohl das neue Gebäude noch nicht ganz fertiggestellt ist. Dort wird Donaldson ein standesgemäßes Eckbüro im zehnten Stock beziehen. Daneben gibt es ein weiteres Büro, das für ein Kommissionsmitglied vorgesehen ist. Beide Zimmer haben Kapitol-Blick und teilen sich eine Terrasse. Den drei Kommissaren, die das Nachsehen haben werden, wird für eine Übergangszeit von sieben Monaten dagegen ein Blick auf Eisenbahngleise zugemutet - freilich von Büros aus, die eine eigene Toilette und Dusche aufweisen. Nach dem Umzug in ihre permanenten Arbeitszimmer haben sie dann Ausblick auf eine Wohngegend.

Der Streit verläuft nicht entlang der üblichen parteipolitischen Gräben innerhalb der SEC-Kommissare, die vom Präsidenten berufen werden. Der Demokrat Roel Campos und die Republikanerin Cynthia Glassman bestehen beide auf KapitolBlick. Und Glassmans Parteigenosse Paul Atkins, trotz gleicher Parteizugehörigkeit einer der schärfsten Kritiker von Chairman Donaldson, findet es grundsätzlich unfair, wenn einer der normalen Kommissare ein besseres Büro erhalten sollte. Glassman hat schon ihr Dienstalter in die Waagschale geworfen, weil sie 2002 als erste der derzeit amtierenden Kommissare vereidigt wurde. Der einzige, der keine Ansprüche auf das Büro mit Kapitol-Blick angemeldet hat, ist Harvey Goldschmid. Goldschmid wird die Behörde aber im August verlassen.

James Cox, ein Professor für Wertpapierrecht an der Duke-Universität, macht die Bauplaner für den Konflikt verantwortlich. "Die Architekten haben einen erstaunlichen Mangel an Sensibilität gegenüber der Politik und den Persönlichkeiten von Leuten erwiesen, die vom Präsidenten ernannt werden", meint Cox. Die Größe des Büros gehöre zu wichtigen Anreizen für Leute, die hohe Gehälter in der Privatwirtschaft aufgeben, um für eine Behörde zu arbeiten. Ein gemeiner SEC-Kommissar erhält 140300 Dollar im Jahr. Der Chairman verdient 149200 Dollar.

Die einzigen, die schon eine Lösung für ihre Büroverteilung gefunden haben, sind die 3000 gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter der SEC. Die wählen ihre Büros nach Betriebszugehörigkeit aus, erläuterte Gewerkschaftsfunktionär Michael Clampitt gegenüber "Bloomberg". Die Gewerkschaftsmitglieder seien angesichts der latenten Terrorbedrohung aber vor allem an der Sicherheit des Gebäudes interessiert. Clampitt: "Wir befassen uns nicht so sehr mit dem Blick auf das Kapitol, wir machen uns eher Sorgen, daß wir neben dem Kapitol in die Luft gejagt werden."


Text: F.A.Z., 18.02.2005, Nr. 41 / Seite 25

Donnerstag, 17. Februar 2005

Thailand nach dem Tsunami

SPIEGEL ONLINE - 17. Februar 2005, 16:30
URL: http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,342247,00.html
Thailand nach der Welle

"Tsunami cannot beat us"

Vor knapp zwei Monaten schlug die Tsunami-Welle auf die Küste Thailands. Während Hotels in manchen Regionen schon längst wieder bereit sind, Touristen zu empfangen, sind die Aufräumarbeiten in anderen noch nicht abgeschlossen. SPIEGEL-ONLINE-Autorin Bettina Hagen berichtet aus Khao Lak, Phuket und Kho Phi Phi Don.

Mulan am Strand von Kamala: Möglichst schnell zurück zur Normalität
Mulan hat Angst vor der Zukunft. Jeden Morgen fegt sie ihr Stück Strand in Kamala auf der Phuket. Sie befreit es von Blättern und Kokosnüssen. 60 Liegestühle hat sie früher vermietet, nur 16 konnte sie aus den Fluten retten. Ob es ihre sind, kann sie nicht genau sagen, schließlich war der Strand von Kamala voll mit Sonnenliegen. 3000 Baht (60 Euro) pro Tag hat sie in der Hochsaison verdient, jetzt sind es nicht mehr als 200 (4 Euro).

In Kamala hat die zwölf Meter hohe Tsunami-Welle am zweiten Weihnachtstag besonders gewütet. Am Strand sieht man davon nichts mehr, blitzblank ist er, das Wasser so klar wie nie. Doch im Ort ist die Katastrophe präsent. Die wassernahen Hütten wurden einfach weggespült, Häuser in der zweiten Reihe bis auf die Grundmauern und einzelne Seitenwände zerstört. Kaputte Restaurantschilder liegen am Boden. Doch jetzt, knapp zwei Monate nach der Katastrophe, wird überall gehämmert, gebohrt und repariert. Die Menschen wollen möglichst schnell zurück zur Normalität, schließlich geht es jetzt um ihre Existenz.

Mulan war am Strand, als die Welle kam. Etwa einen Kilometer weit habe sich das Wasser plötzlich zurückgezogen, dann kam es mit voller Wucht. Sie musste um ihr Leben rennen. Ihr Haus hat sie verloren, Unterschlupf fand sie bei der Familie. 2000 Baht (40 Euro) Soforthilfe gab es von der Regierung und 15.000 Baht (300 Euro) für ein neues Haus. Doch die sind bereits für die notwendigsten Anschaffungen verbraucht. Hin und wieder gibt es kleine Lichtblicke im Unglück. Gestern, erzählt sie, habe ihr ein schwedisches Ehepaar zehn neue Sonnenschirme geschenkt. Einfach so. Sie hofft, dass die Touristen bald zurückkommen. "Wir brauchen Arbeit. Das hilft uns mehr als Spenden."

Landesinnere und Ostküste blieben gänzlich verschont

"Wir sind mit einem blauen Auge davon gekommen", sagt Frank Haussels, Marketing-Manager beim Thailändischen Fremdenverkehrsamt in Frankfurt, "die Lage ist weit weniger dramatisch als zunächst befürchtet." Eine Krise wie in Indonesien habe es in Thailand dank der guten Infrastruktur und der Sofortmaßnahmen der Regierung nie gegeben. Haussels muss zurzeit mit Reiseveranstalter und Medienvertreter in die betroffenen Gebiete reisen, um ihnen ein realistisches Bild der Situation vor Ort zu vermitteln, denn die Welle hat in Thailand nur wenige Regionen zerstört. Doch die meisten Urlauber meiden die Gegend. "Die undifferenzierte Bilderflut in den Medien und die Panikmache der Reiseveranstalter hat den Tourismus gänzlich zum Erliegen gebracht", meint Haussels. Auf beliebten Ferieninsel Phuket liege die Auslastung der Hotels derzeit nur bei zehn Prozent, obwohl die meisten Strände gar nicht betroffen seien.

Liegen in Kamala: Der Strand ist blitzblank, im Ort ist die Katastrophe noch präsent
Dass wenig los ist auf Phuket, zeigt sich bereits bei der Ankunft am Flughafen. Wo noch vor Weihnachten ein wildes Treiben in den Abfertigungshallen herrschte ist jetzt gähnende Leere. Etwa hundert Reisebusse standen täglich vor der Ankunftshalle, heute sind es nicht mehr als vier. Dabei sind von den 15 Stränden an der Westseite Phukets nur zwei stark beschädigt worden und einige leicht. Das Landesinnere der Insel mit dem Hauptort Phuket-Stadt und die Ostküste blieben gänzlich von der Welle verschont. Doch auch in diesen Gebieten wächst die Sorge um den Arbeitsplatz. "Noch versuchen die Hotels, ihre Mitarbeiter zu halten", sagt Frank Haussels, "aber nach drei Monaten werden die ersten entlassen. So war es während der Sars-Krise vor zwei Jahren."

"We still make the best pizza in town"

So sieht das auch Wolfgang Meusburger, Direktor des Holiday Inn Ressort am Strand von Patong. "Das Fehlen der Gäste trifft nicht nur die Hotels, sondern vor allem die kleinen Händler wie Obst- und Getränkeverkäufer oder Tuk-Tuk-Fahrer." Patong war der beliebteste Strand von Phuket, auch wegen des lebendigen Rotlichtviertels. Dicht an dicht reihten sich bis zu 7000 Liegestühle in drei Reihen am Strand. Die Welle kam bis zur Strandstraße, wo Geschäfte, Bars und Restaurants eng neben einander lagen. Noch immer sind sie weitgehend zerstört, doch die Renovierung schreitet hier schnell voran.

In der Ton Sai Bay: Kho Phi Phi Don wird noch lange unter den Folgen des Tsunamis leiden
Verschiedene Geschäfte sind bereits wieder geöffnet. Zum Beispiel eine Pizzeria, die trotzig mit einem großen Plakat und den Worten "Even Tsunami cannot beat us. We still make the best Pizza in town" um Kunden wirbt. Parallel zur Strandstraße liegt die Haupteinkaufstraße. Hier stoppte die Welle, der Rest des Ortes wurde vom Wasser verschont. Das Holiday Inn ist für Gäste noch geschlossen. Zur Hälfte wurde es zerstört, einen Toten gab es in der Anlage. Ab April soll es wieder geöffnet werden, mit neuem Spa-Bereich und Kindergarten. Meusburger blickt zuversichtlich in die Zukunft. "Wir haben eine große Anzahl an Stammgästen, mit denen wir bereits in Verbindung stehen. Die werden alle wiederkommen."

Zwei Drittel der thailändischen Opfer starben in Khao Lak

Das Meer glitzert in der Abendsonne. Der kilometerlange feine Sandstrand, gesäumt mit hohen Palmen, ist völlig menschenleer - eine tropische Idylle. Doch eine Kopfdrehung weiter links holt die zerstörte Hotelanlage des Magic-Lagoon-Ressorts in der thailändischen Region Khao Lak den Besucher auf den Boden der Realität. Hier tötete die Flutwelle mehr als 700 Menschen. Die Katastrophe traf die Gegend in der Hochsaison. Das Hotel mit 319 Zimmern und etwa 280 Angestellten war zu der Zeit voll ausgebucht. Die genaue Zahl der Opfer wird wegen der vielen nicht gemeldeten Mitarbeiter wohl niemals zu ermitteln sein.

Khao Lak: 100 von 140 Hotels wurden zerstört
Heute liegt die Anlage noch genauso in Trümmern wie direkt nach dem Unglück. Die meisten Toten sind inzwischen geborgen, offiziell ist die Suche nach ihnen eingestellt. Räumfahrzeuge haben die Zufahrten zum Ferienressort von Trümmern, Schlammmassen und umgestürzten Bäumen befreit. Persönliche Gegenstände liegen noch immer auf den unebenen Wegen - eine Hose, ein Telefon, Handtücher und einzelne Badelatschen. Im Hotel haben die Aufräumarbeiten noch nicht begonnen, ohnehin ist unklar, ob die Eigentümer die Anlage jemals wieder öffnen werden.

Vor dem Tsunami gab es in Khao Lak 140 Hotels. Davon wurden 100 in unmittelbarer Küstennähe vollständig zerstört. Ferienanlagen auf den umliegenden Hügeln blieben verschont. Sie jedoch leiden jetzt unter fehlenden Besuchern. Und das wird sich so schnell nicht ändern, denn Khao Lak ist von der Zerstörung in Thailand am stärksten betroffen. Wegen der Ruhe und Abgeschiedenheit war die Region besonders für Familien attraktiv, sie wird Jahre brauchen, um sich von der Katastrophe zu erholen. Zwei Drittel der geschätzten 8000 Opfer in Thailand sind hier gestorben.

"Am Nachmittag waren wir wieder betriebsfähig"

Dagegen begrüßt Michal Zitek, Direktor des Holiday Inn Ressorts auf Kho Phi Phi Don, seine wenigen Gäste mit: "Willkommen im Paradies." Es ist keine Ironie, denn seine Anlage liegt im Norden der nur acht Kilometer langen Insel, und dort kam der Tsunami nur als Hochwasser an. "Schon am Nachmittag waren wir wieder voll betriebsfähig", erzählt er. Doch auch bei ihm sind Strände und Hotelpools leer. Von den 77 Bungalows sind gerade mal 17 vermietet. Nach den Fernsehbildern über die zerstörte Insel haben die Stornierungen angefangen. "Selbst Buchungen für den kommenden November wurden zurückgezogen", klagt Zitek. Dabei könnten Besucher gerade jetzt ein Thailand jenseits des Massentourismus erleben.

Strand im Norden von Kho Phi Phi Don: Buchungen für den kommenden November wurden zurückgezogen
Kho Phi Phi Don wird noch lange unter den Folgen des Tsunamis leiden. Im Süden der Insel liegt die Ton Sai Bay, ein beliebtes Ziel für Tagestouristen von Phuket und dem Festland. Mit voller Kraft schlug das Wasser in die Bucht und riss ganze Hotels mit sich. 730 Menschen ertranken, etwa 330 werden noch vermisst. Noch heute bietet sich ein Bild der Verwüstung. Schutt- und Müllberge, zerstörte Einkaufsstraßen. Es riecht vermodert in den kleinen Gassen. Der bewundernswerte starke Wille zum Neuanfang bei den Thailändern wirkt hier verhalten. Müde sitzen sie vor ihren kaputten Geschäften, wissend, dass nichts mehr ist wie früher.

Die Provinzregierung plant den Aufbau: "Wir werden am Strand keine Hütten mehr erlauben und auch die Hotels künftig in den Hügeln ansiedeln", sagt der stellvertretende Gouverneur der Provinz, "unser Schwerpunkt liegt jetzt auf Sicherheit." Außerdem wolle man einen einheitlichen Baustil durchsetzen und dem Ort so zu einer neuen geschlossenen Ästhetik verhelfen. Ähnliche Überlegungen gibt es auch auf Phuket. Dort sollen die Sonnenliegen reduziert und der Wassersport auf bestimmte Gebiete beschränkt werden. Es entspricht der thailändischen Mentalität, das Beste aus der Katastrophe zu machen.

Wir fühlen uns jünger als wir sind

Die Revolution der Lebensläufe
Der blinde Glaube, die Jugend sei im Alter von dreißig Jahren beendet, ist gebrochen: Zur Geschichte eines lautlosen Umsturzes, der uns alle ergriffen hat/Von Claudius Seidl


An dem Tag, an dem ich vierzig wurde, wachte ich, weil ich hineingefeiert hatte, mit einem Kater auf, trank, als Gegengift, eine halbe Flasche Wasser und vier Tassen starken, schwarzen Kaffees, zog einen grauen Sommeranzug, aber keine Strümpfe an, krempelte die Hosen hoch, fuhr mit dem Rad zur Arbeit, beschimpfte unterwegs ein paar Autofahrer, die den Radweg blockierten, fing auf der ersten Konferenz des Tages einen Streit mit meinem Vorgesetzten an, machte später, als der Personalchef mit einer Flasche Champagner kam, die ich, so sein Vorschlag, am Abend trinken sollte, ein paar Scherze auf seine Kosten und öffnete den Champagner gleich, ging am Mittag essen mit Kollegen, die ich Jungs nannte, lachte über ihre Scherze, die auf meine Kosten gingen, schaute auf dem Rückweg, weil es Sommer war, den kurzen Sommerkleidern hinterher, legte meine Füße auf den Schreibtisch und blieb, weil es soviel zu tun gab und die Arbeit eigentlich ein Vergnügen war, viel zu lange im Büro, legte mich am Abend aufs Sofa und hörte sehr laute Soulmusik, sagte allen, die anriefen und mir gratulierten, es gehe mir gut, trank einen kleinen Whisky und küßte meine Frau und sagte zu ihr: Ich habe ein gutes Leben. Warum macht es mich trotzdem traurig? Warum werde ich das Gefühl nicht los, daß ich zehn Jahre zu alt für dieses Leben bin?


Du bist fünfzehn Jahre zu alt, sagte sie, aber jedes andere Leben würde dich noch trauriger machen.

Als sie schlief, lag ich noch lange wach und nahm mir vor, demnächst einmal konzentriert über mein Alter nachzudenken. Morgen, übermorgen, an einem Tag, an dem ich ausgeschlafen haben würde.

*

Gegen Mittag rief endlich Leo an, um mir alles zu erzählen - seine Botschaft war, daß es nichts zu erzählen gab. "Es war ein Flop", sagte Leo, "du hast nichts versäumt, sei froh, daß du nicht mitgegangen bist."

Leo hatte mir die Party des Monats versprochen, am Nachmittag davor, als er seinen Abend plante: "Komm mit", hatte er gesagt, "wir werden schöne Menschen sehen, vor allem Frauen, wunderbare Frauen." Eine neue Zeitschrift wurde vorgestellt, die Einladungskarten waren schwarz und schick, ich konnte aber nicht, ich durfte nicht mit, ich mußte aufstehen am nächsten Morgen. "Die Frauen", sagte trotzdem Leo, "die großen, schlanken Frauen in ihren spitzen Prada-Pumps. Du mußt wissen, was du dir entgehen läßt."

"Waren sie da, die schönen Frauen?" fragte ich Leo am Telefon.

"Sie waren da. Das glaube ich jedenfalls. Es war so dunkel auf dieser Party, daß ich sie nicht richtig sehen konnte. Und so laut war es, daß ich sie nicht ansprechen konnte. Idiotenparty." Er sei, sagte Leo, wie alle anderen dumm herumgestanden, er habe ein bißchen getrunken, alle Angebote zu illegalen Drogen ausgeschlagen - und dann habe er doch noch mit Heike geknutscht, der Drehbuchschreiberin, die er seit Monaten kenne und die dann doch nicht mit zu ihm gegangen sei, was aber, wie Leo schwor, ihm letztlich auch egal gewesen sei. Verliebt sei er eh nicht in sie, und nachts müsse er noch immer an Sabine denken, die arrogante Sabine, die ihn vor einem Monat verlassen hatte und zu ihrem Freund zurückgekehrt war.

Das war also die Nacht, die ich verschlafen hatte: eine ganz normale Freitagnacht, eine Party- und Flirtnacht, eine Whiskynacht, genau das, was einer am Ende der Woche eben braucht - wenn er neunzehn oder fünfundzwanzig ist.

Leo ist im Herbst dreiundvierzig geworden, und er hält, was er so in seiner Freizeit tut, für seinem Alter absolut angemessen. Seine Freunde leben auch nicht anders, er kennt kaum jemanden, der sich für eine solche Nacht zu alt und zu erwachsen fühlte. Und wie neu und ungeheuerlich das ist, wie revolutionär und wundersam: Das erkennt man womöglich erst dann, wenn man kurz zurückblendet in der Zeit, ein halbes Jahrhundert ungefähr, ins Jahr 1952, als ein sehr komischer Film von Howard Hawks in die Kinos kam - eine Komödie, deren visionäre Kraft sich erst heute offenbart. "Monkey Business" hieß der Film im Original; der deutsche Titel war "Liebling, ich werde jünger", und Cary Grant spielte darin den Mann, der die Formel für die ewige Jugend entdeckt: ein Serum, das jeden jünger werden läßt.

Grant war hier ein seriöser Herr von Anfang Vierzig, verheiratet, bebrillt und immer korrekt gekleidet - bis er, aus Versehen, von dem Serum trank. Erst spürte er bloß ein albernes Gefühl. Dann ließ er sich die Haare zur Bürste schneiden. Er kaufte einen Sportwagen mit offenem Verdeck. Und dann setzte er die junge Marilyn Monroe auf den Beifahrersitz, drückte aufs Gaspedal, und Marilyn Monroe kreischte vor Vergnügen.

Ein Mann in seinen Vierzigern, der sich so aufführt, als blieben ihm bis zum Erwachsenwerden noch zehn Jahre Zeit: Das war vor fünfzig Jahren lächerlich, und bis in die achtziger Jahre hinein blieb Howard Hawks' Komödie ein Renner im Sonntagnachmittagsfernsehprogramm.

Heute bekommt man den Film kaum noch zu sehen - was wohl vor allem daran liegt, daß seinen Gags die Grundlage entzogen wurde. Was damals lustig wirkte, ist heute der Normalzustand. Wir sollten uns "Liebling, ich werde jünger" nicht bloß als Komödie, sondern als Science-fiction vorstellen - in der Zukunft, wie sie dieser Film beschreibt, sind wir längst angekommen.

Der Vierzigjährige, der sich noch immer halbstark fühlt und kleidet und benimmt, ist der repräsentative Bewohner unserer Gegenwart. Er begegnet uns in der U-Bahn, in der Bankfiliale und am Arbeitsplatz, im Stammlokal und natürlich auf allen Leinwänden. Er fällt nicht auf, weil es fast nur noch seinesgleichen gibt.

Und natürlich ist dieser repräsentative Zeitgenosse in fünfzig Prozent aller Fälle eine Frau - und was sich da verändert, ja welche Revolution die Verhältnisse erschüttert hat: Das zeigt sich überdeutlich, wenn wir noch einmal zurückblenden in den Film. Nach Cary Grant kostet auch seine Frau vom Jugendlichkeitsserum, und diese Frau spielte Ginger Rogers, die zur Zeit der Dreharbeiten vierzig Jahre alt war. Sie war in den dreißiger Jahren der größte Star des Filmmusicals gewesen, eine schöne, starke Frau mit einem breiten Mund und strahlenden Augen, eine atemberaubende Tänzerin, die Partnerin von Fred Astaire, die Hälfte eines Traumpaars, über das man sagte: "She gave him sex, he gave her class." Aber Ginger Rogers war älter geworden, sie war ideal besetzt als Ehefrau, sie trug Röcke, die das Knie bedeckten, und sah aus, als könnte sie den perfekten Truthahn zubereiten. Nur jung sah sie überhaupt nicht aus - und wenn sie im Film das Wundermittel nimmt und anfängt, sich wie ein Mädchen zu benehmen, albern, sexy, kokett: Da tut einem Ginger Rogers eher leid, als daß man über sie lachen möchte. Sie sieht alt und ein bißchen unglücklich aus, wenn sie sich wie eine Jugendliche gibt. Und wenn die Wirkung verflogen ist, möchte man sich bei dem Film bedanken, im Namen von Ginger Rogers.

Offenbar wirkt das Serum, das uns Zeitgenossen injiziert worden ist, viel stärker und viel nachhaltiger. Es hat nicht bloß das Befinden verjüngt, es verändert auch die Körper. Eine Frau, die so aussieht wie Ginger Rogers in dem Film, würden wir heute auf Anfang Fünfzig schätzen. Eine Frau von Vierzig dagegen, die sich mit den Insignien der Jugendlichkeit schmückt, fällt im schlimmsten Fall überhaupt nicht auf. Und im besten eher angenehm. Sie ist die Regel, nicht die Ausnahme - mit welchem Alter die Jugend endet, war noch nie so ungewiß wie heute.

Sicher ist nur, daß unsere Gesellschaft, wenn sie ihr Selbstporträt anfertigt und wenn sie nach der perfekten Verkörperung ihrer Vorstellung von Jugend und Gesundheit sucht, das Schönheitsideal, das Sexsymbol: daß sie dann an Frauen wie Nicole Kidman oder Julianne Moore denkt, an Männer wie George Clooney oder Hugh Grant - an Menschen also, die mindestens Ende Dreißig und meistens älter als vierzig sind. Und da unser Schönheitsideal, wie jeder Blick auf alte Bilder beweist, nicht gealtert ist, bleibt nur eine Folgerung: Jene, die es verkörpern, sind jünger geworden, jünger, als es Menschen jenseits der Dreißig jemals waren.

Manchmal merkt ein altmodischer Mensch, daß irgend etwas hier nicht stimmen kann. Jener Schreiber eines britischen Filmmagazins zum Beispiel, der neulich ein Pamphlet verfaßte, das auf die Forderung hinauslief: "Mädels, werdet endlich erwachsen!" Dem Mann war aufgefallen, daß Schauspielerinnen in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern, weibliche Stars wie Wynona Rider oder Kate Winslet, einfach nicht aufhören können, die Mädchen zu spielen, unreife Personen, die vorwiegend mit sich selber beschäftigt sind, mit ihren kleinen, gymnasiastinnenhaften Liebesgeschichten und den pubertären Zweifeln am Sinn einer bürgerlichen Existenz, statt Verantwortung zu übernehmen oder so würdig zu leiden, wie das erwachsene Frauen tun. In eurem Alter, so rief der Kritiker, haben Frauen wie Lauren Bacall oder Marlene Dietrich ganz andere Rollen gespielt: Frauen, die eine Vergangenheit hatten und ein Schicksal, Frauen, die sich kaum daran erinnern konnten, daß sie mal junge Mädchen waren.

Der Mann hatte recht - und doch hatte er das Wichtigste übersehen. Die Rollen, welche Lauren Bacall mit neunundzwanzig spielte, sind ja nicht verschwunden. Sie werden nur heute mit Frauen besetzt, die zehn bis zwanzig Jahre älter sind, mit Julianne Moore, mit Sharon Stone - mit Frauen also, die vorne eine große Vier stehen haben. Für die Müttergeneration gab es jenseits der Vierzig bloß noch die grauhaarigen Rollen, die Tante des Helden oder seine Chefin, die von ihm Respekt wollte, einen Blumenstrauß - während Quentin Tarantino in "Kill Bill" die Rolle einer professionellen Killerin, die zwar vorwiegend mit Schwertern und Pistolen ihren Job erledigt, die aber im entscheidenden Moment ihren Sex als die allerschärfste Waffe entsichert, mit der dreiundvierzigjährigen Daryl Hannah besetzt, einer blonden Schönheit, die zum Filmstart, um ihre Eignung zu beweisen, ein paar hübsche Fotos von sich im "Playboy" plazierte.

Im Jahr 1968 kam ein Film in die Kinos, der dem Publikum all das bot, was damals für jung und schick galt. Es gab Schauplätze in New York und der Karibik, es gab Kleider, die waren so knapp geschnitten, daß man sich fragte: Wie sind die Leute da hineingekommen, und, vor allem, wie kommen sie wieder heraus? Es gab eine Geschichte, die eher ambitioniert als spannend war; sie erzählte beiläufig vom perfekten Raub, und sehr konzentriert erzählte sie von einem Mann und einer Frau, die einander unwiderstehlich finden, obwohl sie eigentlich gegeneinander arbeiten - und natürlich konnte diese Story nur funktionieren, wenn man die Hauptrollen mit Schauspielern besetzte, deren Sexappeal unabweisbar war.

Den Mann spielte Steve McQueen, die Frau spielte Faye Dunaway, der Film hieß "The Thomas Crown Affair" - und im Jahr 1999, also einunddreißig Jahre danach, war die Zeit reif für eine aktualisierte Version. Wieder sah man exquisite Wohnungen, teure Garderoben, lässige Gesten, und wieder erzählte der Film davon, wie ein attraktiver Mann den perfekten Raub plant und wie eine schöne Frau ihn daran hindern will - und wieder ging es bald nur noch darum, daß die beiden ihren Zweikampf dort fortsetzen, wo ein Unentschieden schon in Ordnung geht, im Bett. Die Hauptrollen spielten Rene Russo und Pierce Brosnan - und was in diesem Film so neu war, das offenbart ein Blick auf die Geburtsdaten. Im Jahr 1968 war Faye Dunaway 27 Jahre alt, Steve McQueen war 38. Im Jahr 1999 war Rene Russo 45 Jahre alt, Pierce Brosnan war 46. Und daß Mrs.Russo in den Szenen auf der Palmeninsel nicht mehr anhatte als ein Bikinihöschen, war fürs Verständnis nicht unbedingt nötig, es belegte aber, wie ernst es ihr mit der Rolle war.

Die Grenzen der Jugend haben sich offenbar innerhalb von nur dreißig Jahren, in jenem Zeitraum also, den man früher "eine Generation" genannt hätte, um mehr als zehn Jahre nach hinten verschoben. Jung sein, das war mal etwas, das spätestens mit dem dreißigsten Geburtstag vorbei war, und spätestens kurz nach dem vierzigsten war die Zeit gekommen, da blieb man an dem Ort, wo man war, verabschiedete allmählich die Kinder, begrüßte die grauen Haare und fing an, sich ans Rückwärtszählen zu gewöhnen: noch zwanzig, neunzehn, achtzehn Jahre bis zum Ruhestand. Jung sein, das ist heute eine Möglichkeit, die jedem offensteht, ganz egal, wie alt er ist.

Es gibt natürlich Menschen, denen geht die ganze Richtung gegen den Strich, und besonders heftig hat im Frühjahr 2004 der Publizist Joseph Epstein protestiert, in einem Beitrag, für den das konservative Intelligenzblatt "Weekly Standard" den Titel hatte: "Der ewige Heranwachsende. Und der Triumph der Jugendkultur". Das Leben, sagt Epstein, müsse gefälligst, wie ein aristotelisches Drama, einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß haben, und zwar genau in dieser Reihenfolge, und die Lebensmitte, die Hauptsache also und der Höhepunkt, fehle jenen, die nicht begriffen, daß Jugend bloß ein vorübergehender Zustand sei, das kurze Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Erwachsen, sagt Epstein, ist einer, der einsieht, daß er nicht alles haben kann, was er will - und insofern seien jene Manager, die mit ihrer Gier die Ölfirma Enron ins Desaster steuerten, genauso ein Beleg für seine These wie der Präsident Bill Clinton: lauter Erwachsene, die sich wie verdammte Grünschnäbel aufführen, weil sie zuviel Rock'n'Roll gehört und die falschen Bücher gelesen haben.

Denn die Kultur, sagt Epstein, ist die Urheberin dieses Skandals und zugleich dessen deutlichster Ausdruck: Von Salingers "Fänger im Roggen" bis zur Fernsehserie "Friends", von der Popmusik bis zu den Rollen, die Anfangsvierziger wie Hugh Grant oder Jim Carrey im Kino spielen - unsere populäre Kultur predige die Jugend als Natur- und Idealzustand des Menschen und verdamme das Älterwerden als die Sünde der Selbstentfremdung.

Vom Jugendwahn besessen, perpetuierten die Erwachsenen ihre eigene Jugendlichkeit bis an die Grenze zum Rentenalter; sie schwömmen (wie Kierkegaard das genannt hat) durchs "Meer des Möglichen" und weigerten sich, endlich an Land zu gehen. Erschwerend komme hinzu, daß jene, die die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre oder den Zweiten Weltkrieg erlebt hätten, langsam ausstürben. Wer aber ohne solche Krisen aufgewachsen sei, habe den Ernst des Lebens niemals kennengelernt; wer nie die Angst vor dem Tod gespürt und überwunden habe: So einem fehle die Fähigkeit, das Ernste vom Unernsten, das Wichtige vom Überflüssigen zu unterscheiden.

Als ich das alles gelesen hatte, rief ich Leo an und fragte ihn, ob er vielleicht jemanden kenne, der erwachsen sei. Leo lachte und sagte: "Ich bin sehr erwachsen. Erwachsener, als ich es bin, kann man nicht sein. Ich verdiene Geld und zahle Steuern. Ich arbeite viel, trinke kaum und rauche manchmal abends eine Zigarette. Ich führe ein gemäßigtes Leben. Und ich sorge für meine kleine Tochter."

"Aber du lebst nicht mit ihrer Mutter zusammen. Du knutschst mit Frauen, in die du nicht verliebt bist, und verliebst dich in Frauen, die nicht bei dir bleiben. Du kaufst die neuesten Schallplatten. Du sammelst alte Schallplatten. Du ziehst manchmal einen Anzug an, aber niemals eine Krawatte. Du willst wissen, wo die schicken Partys sind. Das ist ein schönes Leben, aber erzähl mir doch nicht, daß das erwachsen ist!"

"Was willst du eigentlich von mir?" fragte Leo. "Willst du, daß ich mit einer Frau, die ich nicht liebe, Kinder zeuge, die wir dann mit Fernsehverbot und Hausarrest erziehen? Willst du, daß ich dreißig Kilometer von der Stadtmitte entfernt in ein Reihenhaus ziehe, samstags meinen Volvo wasche und abends nach den ,Tagesthemen' vor dem Fernseher einschlafe? Oder wünschst du dir vielleicht, daß ein Krieg kommt oder eine Hungersnot, damit wir endlich das wahre Leben kennenlernen? Tut mir leid, ich will das nicht. Mir ist mein Leben auch so schon wahr genug."

Leo, das muß hier gesagt werden, ist Künstler von Beruf, er ist in jenem Milieu zu Hause, das man noch immer die Boheme nennt, und die Vermutung, daß irgend etwas an seinem Lebensstil repräsentativ sei, würde Leo empört zurückweisen. Auch eine Hollywoodschauspielerin, deren Tage mit Ayurveda beginnen und mit Mineralwasser zu Ende gehen, hat ziemlich wenig gemein mit einer gleichaltrigen Rechtsanwältin, Sekretärin oder einer Mutter von zwei kleinen Kindern, mit Frauen also, die außer der Arbeit an ihrer eigenen Schönheit noch ein paar andere Sorgen haben.

Neulich bin ich hinausgefahren an den Ort, vor welchem Leo sich so fürchtet, mit der S-Bahn, zwanzig Kilometer vor die Stadt. Ich habe eine Frau besucht, die Anfang Vierzig ist; sie wohnt mit ihrem Mann und den beiden Kindern aus ihrer ersten Ehe in einem kleinen Haus, und als wir beim Mittagessen saßen, war Leos Boheme weit mehr als zwanzig Kilometer entfernt. Es gab Hühnersuppe und Apfelschorle, die Kinder erzählten von der Schule, der Mann war im Büro, und nach dem Essen nahmen wir unsere Kaffeebecher in die Hand und rauchten im Garten eine Zigarette. Wir sprachen über die Noten der Kinder, die Fortschritte beim Musikunterricht und den Skiurlaub, der in diesem Jahr noch teurer werden würde, vor allem aber sprachen wir über ihre Zukunftspläne, es gab einen Plan für ihren Halbtagsjob und einen für das Haus, es gab natürlich hundert Pläne für die Kinder, und wie die Frau, diese Halbtagshausfrau und Ganztagsmutter, mir gegenüberstand, hübsch, mit einem mädchenhaften Lächeln, in Jeans, Turnschuhen und von der Zukunft viel mehr beansprucht als von dem bißchen Vergangenheit, das man mit Anfang Vierzig hat: spätestens da war offensichtlich, daß auch ihr Leben eher einer Baustelle glich als einer festen Burg. Auch ihre Uhr ging anders als die ihrer Mutter, was ich schon deshalb weiß, weil die Frau meine Schwester ist. Und so wie ihr geht es wohl den meisten, die ein unspektakuläres Leben führen, und erst auf den zweiten Blick stellt man fest, daß sie jünger aussehen, sich fühlen und benehmen, als das in den alten Biographiefahrplänen vorgesehen ist.

Sie alle haben an der Revolution der Lebensläufe teilgenommen - und wenn so einer, der heute dreißig, vierzig oder fünfzig ist, zurückblickt auf all die Jahre, in denen er älter wurde und doch jung geblieben ist, dann tut er sich sehr schwer damit, zu sagen, ob er Täter, Opfer oder bloß Zeuge bei diesem Umsturz war. Die Revolution, die in vollem Gange ist, kommt ohne Manifeste, ohne Führer, ohne Forderungen und ohne Guillotinen aus, es ist kein Blut geflossen, und niemand wurde an die Wand gestellt. Und doch sieht es so aus, als ob diese Revolution unser Leben ebenso unwiderruflich verändern würde, wie das die Französische und die Russische Revolution mit dem Leben der Franzosen und Russen taten.

Was gestürzt wurde, war keine Klasse, keine herrschende Clique - und doch waren es die Verhältnisse, die immer auch Machtverhältnisse sind. Was gestürzt wurde, war die Macht der Altersstrukturen und die Herrschaft der alten Lebensblaupausen, was verschwand, war der blinde Glaube, daß die Jugend spätestens mit dreißig zu Ende sei, ja der Glaube, daß Jugend überhaupt ein Ende haben müsse - und daß die Revolution von so wenig Lärm begleitet wird, dafür gibt es zwei Gründe: Erstens haben sich die Revolutionäre nicht zu großen Massen zusammenrotten müssen; das revolutionäre Subjekt ist jeder einzelne, der mit dreißig, vierzig, fünfundvierzig beschließt, im Meer des Möglichen noch ein bißchen herumzuplanschen und den Landgang bis auf weiteres zu verschieben. Daß die anderen ganz genauso handeln, nimmt man zwar wahr; es ist für die eigenen Entscheidungen aber keine notwendige Voraussetzung. Anders als bei jeder Revolution zuvor, welche Sieger und Besiegte, Rebellen und Gestürzte gemeinsam erlebten, ist bei dieser Revolution der Revolutionär ganz für sich allein.

Und zweitens sieht es ganz so aus, als wären bei diesem Umsturz keine Opfer zu beklagen. Wenn man, bis auf weiteres jedenfalls, die Arbeitshypothese von Joseph Epstein, wonach die allgemeine Infantilisierung und der sogenannte Jugendwahn die Ursachen nahezu aller Übel der Gegenwart seien, nicht akzeptieren möchte, dann bleiben eigentlich nur noch gute Nachrichten. Alle werden jünger, alle sehen besser aus, allen geht es besser. Daß die Lage nicht ganz so einfach zu beschreiben und auch nicht ganz so rosig ist, das werden wir noch sehen.


Text: F.A.Z., 17.02.2005, Nr. 40 / Seite 42

Männer und Frauen

SPIEGEL ONLINE - 17. Februar 2005, 12:48
URL: http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,341064,00.html
Eiswasser-Experiment

Was Männer für eine hübsche Frau auf sich nehmen

Männer sind so berechenbar - sehen sie eine attraktive Frau, schaltet ihr Gehirn gleich auf Autopilot. Ernst Roidl machte im Studium der Wirtschaftspsychologie den Test. Im Interview erzählt der Lüneburger Student, wie Kommilitonen bei einer Versuchsleiterin Eindruck schinden wollten, als sie die Hände in Eiswasser tunkten.

SPIEGEL ONLINE: Für eine Seminararbeit haben Sie Kommilitonen quälen lassen. Wie haben Sie das angestellt?




Eiswasser-Versuch: "Schmerzen? Für dich sofort!"
Ernst Roidl: Für das Experiment habe ich 22 Männer eingeladen und einen Persönlichkeitsfragebogen ausfüllen lassen, eine Fassung des Freiburger Persönlichkeitsinventars. Aber das war erst einmal nur Tarnung. Nach der Bearbeitung des Fragebogens wurden die Männer einzeln in einen Raum gebeten. Dort hat ihnen eine Frau gesagt, sie sollten die Hand in eiskaltes Wasser stecken. Die Versuchsleiterin hat dann gestoppt, wie lange sie es aushielten. Der Trick: Bei elf Männern hatte sich die Frau hübsch gemacht und verhielt sich sehr nett. Sie trug Make-up, enge Jeans und offene Haare, außerdem hielt sie wenig räumlichen Abstand zu den Männern. Bei den anderen elf war sie mit einem Laborkittel bekleidet, es gab kein Make-up mehr, und die Haare hatte sie streng nach hinten zusammengebunden. Außerdem las sie nur noch Instruktionen vor.

SPIEGEL ONLINE: Und wie sahen die Ergebnisse aus?

Roidl: Das war faszinierend. Männer, die es mit der hübschen Frau zu tun hatten, ließen ihre Hand im Schnitt mehr als doppelt so lange im Wasser. Ihr Mittelwert betrug 80 Sekunden. Wir mussten sogar eine Höchstgrenze von zweieinhalb Minuten einführen, damit keiner Schaden nimmt. Und selbst dann wollten einige die Hand gar nicht mehr rausnehmen - obwohl sie langsam blau wurde. Bei den Männern mit der weniger netten Versuchsleiterin dauerte es im Schnitt nur 30 Sekunden, bis alles vorbei war.

SPIEGEL ONLINE: Gab es einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, oder haben Sie einfach eine sadistische Ader?

Roidl: Natürlich hat der Versuch einen ernsthaften Hintergrund. Als angehender Wirtschaftspsychologe muss ich auch lernen, wie man psychologische Experimente durchführt. Dafür gibt es ein spezielles Seminar, in dessen Rahmen ich einen solchen Versuch entwickeln sollte. Nachdem ich von einer ähnlichen Studie gelesen hatte, kam ich auf die Idee, das Schmerzempfinden von Männern in Anwesenheit einer schönen oder weniger schönen Frau zu überprüfen. Und es war schon spannend, das Verhalten der Versuchspersonen zu beobachten.



Hat trotz Experiment noch Freunde: Student Roidl
SPIEGEL ONLINE: Was für eine Sorte Mann war es, die schmerzende und blau angelaufene Hände für eine Frau in Kauf nahm?

Roidl: Eine Beziehung zwischen dem Fragebogen zur Persönlichkeit und dem Schmerzempfinden wäre zwar interessant gewesen, aber für diese Auswertung hatte ich nicht die Zeit. Ich vermute, alle hätten sehr hohe Extraversions-Werte aufgewiesen. Aber auch so kann ich sagen: Die mit den längsten Zeiten glaubten sehr fest an ihre Wirkung bei den Frauen und wollten ein bisschen anbandeln, so nach dem Motto: "Die Hand ins Eiswasser? Aber immer, Lady. Für dich sofort."

SPIEGEL ONLINE: Wie erklären Sie sich so ein Verhalten?

Roidl: Da gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder evolutionsbiologisch: Wir wollen als harte Kerle dastehen, damit die Weibchen auf uns anspringen. So ein Verhalten verspricht Vorteile. Frauen bevorzugen Männer, die stark und durchsetzungsfähig sind, weil sie gesunden Nachwuchs garantieren. Das wissen Männer unbewusst auch und verhalten sich in Gegenwart potentieller Sexualpartnerinnen entsprechend - dann unterdrücken sie also das Kältegefühl, um keine Schwäche zu zeigen. Oder es ist eine Wechselwirkung von Emotionen und Hormonen: Die angenehme Emotion bei der hübschen Frau sorgt für vermehrte Hormonausschüttung durch die Hypophyse. Besonders Adrenalin und Endorphin werden frei, die beide das Schmerzempfinden senken.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie eine Frau gefunden, die bei dem Versuch mitmachte?

Roidl: Ich hab sie einfach in der Kneipe angesprochen, wo sie gekellnert hat. Als ich ihr erklärte, worum es ging, hat sie nur gefragt "Aber warum denn ich?" Ich glaube, sie hat eine Menge über ihre Wirkung auf Männer gelernt.

SPIEGEL ONLINE: Und Ihre Versuchspersonen? Wie haben die reagiert, als Sie ihnen hinterher erklärt haben, worum es eigentlich ging?

Roidl: Die haben die Schmerzen ganz locker genommen, waren aber ziemlich überrascht. Die meisten fanden es dann cool und irgendwie witzig.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben also noch Freunde auf der Uni?

Roidl: Klar! Ich muss keine Anschläge befürchten, wenn ich über den Campus gehe.

SPIEGEL ONLINE: Und wie geht es weiter mit Ihrem Studium?

Roidl: Ich komme jetzt ins Hauptstudium und spezialisiere mich auf Personal- und Organisationspsychologie. Da beschäftige ich mich dann auch mit so Sachen wie Einstellungsgesprächen. Aber ohne Eiswasser!

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Roidl: Ich habe nach dem Experiment so viele eiskalte, schlaffe Händedrücke bekommen. Das reicht erst einmal.

Das Interview führte Mirko Herr

Diäten, Pfunde und Dollars: Millionenerbin im Kalorien-Krieg

SPIEGEL ONLINE - 17. Februar 2005, 10:31
URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,341231,00.html
Diät-Witwe-Atkins

Millionenerbin im Kalorien-Krieg
Von Marc Pitzke, Palm Beach



Die Witwe des Diät-Gurus Robert Atkins hat der Lebensmittelindustrie den Krieg erklärt. Veronica Atkins will den lädierten Ruf ihres Mannes und seiner weltberühmten Diät posthum retten. Dabei geht es nicht nur um Pfunde, es geht um Dollars.

Witwe Atkins: "Diese Leute sind bösartig, sie glauben an nichts"
Palm Beach - Veronika Atkins rückt mit Flankenschutz an. Zwei Treuhänder und ein PR-Agent, alle in schmuckem Schwarz: "Meine drei Musketiere", gurrt Atkins und bietet dem Gast einen Diät-Muffin an. "Ohne die gehe ich nirgendwohin." Die Musketiere lächeln und blättern geschäftig in ihren Akten.

Recht hat sie. In diesem gnadenlosen Geschäft muss man immer auf der Hut sein, um jederzeit die "Lügen" des Gegners parieren zu können. Zum Beispiel, dass Kalorien schlecht für die Linie seien. Oder Kohlehydrate harmlos. Oder dass ihr Mann kein richtiger Doktor gewesen sei, sondern ein Scharlatan, der einem das Geld aus der Tasche gezogen habe.

"Ich bin bereit, zu kämpfen", sagt die Millionenerbin Veronica Atkins, die sonst so pressescheue Witwe des 2003 verstorbenen Diät-Gurus Dr. Robert Atkins, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Diese Leute sind bösartig. Sie glauben an nichts. Sie sind Fanatiker."

Mit "diese Leute" meint die zierliche 67-jährige Dame die US-Lebensmittelindustrie, jenen 500-Milliarden-Dollar-Umsatzgorilla, der ihren Mann zu Lebzeiten bitter verfolgt hat. Die "Cornflakes-Lobby", wie sie sagt, die Zuckerschleudern und Dickmacher, die Kelloggs, McDonald's, Coca-Colas dieser Welt. Aber auch die "Ultra-Ultra-Vegetarier" und Ärztegruppen wie das Physicians Committee for Responsible Medicine (PCRM), das die Atkins-Diät - Fett ja, Kohlehydrate nein - als gesundheitsschädlich anprangert. Die Fronten sind längst gezogen in diesem eskalierenden Drama um Geld und Gewicht. Anderen könnte das Angst machen.

Die Ehre eines Toten

Atkins-Produkte: Wachstum im einstelligen Bereich
Nicht ihr. Veronica Atkins sitzt aufrecht und entschlossen in einem Konferenzsaal in Palm Beach, dem Reichenrefugium Floridas. Eine bis heute trauernde Witwe, die nun aber einen Weg gefunden hat, ihre Trauer zu kanalisieren: Sie verteidigt das bedrohte Diät-Erbe ihres Mannes, bewehrt allein mit ihrem Namen, ihrem Privatvermögen und ihrer Chuzpe.

Die dürfte sie brauchen. Denn der Anteil der Amerikaner, die eine Low-Carb-Diät à la Atkins verfolgen, ist Marktforschungsstudien zufolge zwischen 2003 und 2004 rasant geschrumpft - von zwölf auf vier Prozent. "Ist der Low-Carb-Boom vorbei?", fragte die "New York Times". "Low-Carb stirbt", legte das "Wall Street Journal" nach. Ein Milliardengeschäft wankt: Atkins Nutritionals - der von Dr. Atkins gegründete Diätkonzern, der heute unabhängig von seiner Witwe operiert - streitet zwar Probleme ab, bestätigt aber, dass seine Wachstumsprognosen für 2005 nicht mehr zwei- oder dreistellig seien, sondern nur noch einstellig. Nachrufe auf den Atkins-Boom, so Sprecher Anthony Giordano, seien freilich ebenso verfrüht wie Nachrufe auf das Internet.

Doch Veronica Atkins geht es ja nicht um die Company. Ihr geht es um die Ehre eines Toten: "Er hat die Wahrheit gesagt. Er hatte Recht."

Seit an Seit mit ihren Musketieren, die sie dauernd mit neuen Statistiken unterbrechen, nimmt sie gleich den Gegner ins Visier. Herkömmliche Abspecker wie Weight Watchers etwa: "Was passiert, wenn du auf Fett verzichtest?", fragt die gebürtige Russin in slawisch gefärbtem Englisch. "Du isst mehr Zucker. Und bumm, eine Stunde später hast du wieder Hunger!"

Burger ohne Brötchen

Dabei wirkt sie zunächst nicht wie eine, die es wagt, das Diät-Establishment herauszufordern in dieser verfetteten und zugleich doch vom ewigen Abnehmen besessenen Nation. Sondern eher wie eine dieser Ladys, die man hier in Südflorida überall durch die Luxus-Malls irren sieht: glamourös, aber müde, gertenschlank, giftgrünes Kostüm, dezent blondiertes Kurzhaar, unaufdringlicher, doch hochkarätiger Goldschmuck an Ohren, Hals und Händen.

Hinter der klassischen Fassade verbirgt sich eine knallharte Geschäftsfrau mit Mission. Diese Mission hatte einen tragischen Beginn - den Unfalltod ihres Mannes im April 2003.

Dr. Robert Atkins, der berühmt-berüchtigte "Diät-Doktor", betreute in seiner Kardiologie-Praxis in Manhattan über 65.000 Patienten in 40 Jahren. Dabei entwickelte er sein eigenes Rezept "für dauerhaftes Abnehmen und gute Gesundheit": bloß keine Kohlehydrate, kein Zucker, doch jede Menge Protein und "gute Fette". Butter, Vollmilch und Fleisch waren erlaubt. Brot, Nudeln und Süßigkeiten nicht.

Atkins-Jünger: Bloß keine Kohlehydrate
Als "Lifestyle" vermarktet, schlug das Konzept ein. Atkins wurde zum "erfolgreichsten Diät-Guru der Geschichte", so der Autor und Atkins-Kritiker Michael Fumento. Die Atkins-Bibeln "Diet Revolution" und, kurz vor seinem Tod, "Atkins for Life" - gewidmet "meiner liebevollen und lieblichen Ehefrau Veronica" - sowie ein Dutzend weiterer Bücher verkauften weltweit über 40 Millionen Exemplare und lösten nicht nur in den USA einen Low-Carb-Boom aus. Atkins Nutritionals boomte ebenfalls. Bald gab es Low-Carb-Eis, Low-Carb-Pizza, Low-Carb-Bier. Hollywood-Stars schworen auf Atkins. Fast-Food-Ketten begannen ihre Burger ohne Brötchen anzubieten, Steakhäuser ihre Steaks ohne Fritten. Plötzlich waren alle "auf Atkins".

Häme über "Dr. Fatkins"

Fast alle. Die Nahrungsmittelindustrie, die florierende Fat-Free-Branche, die etablierte Medizin, sie bliesen zum Sturm: Die Atkins-Diät sei "unwissenschaftlich", "potenziell gefährlich", "naiv", befand etwa die American Medical Association (AMA). "Bobby ist sein ganzes Leben verfolgt worden", sagt Veronica Atkins - die selbst am liebsten Eier und Speck zum Frühstück isst und Teigwaren "nur in Italien" - heute noch bebend. "Als sei er der Antichrist gewesen. Dabei war er ein Genie."

Robert Atkins: Hohn über "Dr. Fatkins"
Sie hatten sich 1983 kennen gelernt. Veronica Luckey, geschieden, hatte da schon ein volles Leben hinter sich: im Kaukasus geboren, in den 60er und 70er Jahren mal Opernsängerin an der Deutschen Oper in Düsseldorf. Sie sprach Russisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch. Atkins lud sie zum Essen ein, low-carb natürlich. 1988 heirateten sie. "Der Rest ist Geschichte", sagt sie leise.

Im April 2003 starb Atkins, 72-jährig, an den Folgen eines Sturzes. Sein Tod fachte die Kontroverse neu an. Das "Wall Street Journal" druckte einen Autopsiebericht, der ihm von Atkins-Gegnern zugespielt worden war: Atkins sei zuletzt 117 Kilogramm schwer gewesen, also "fettleibig". "Dr. Fatkins", schlagzeilte die "New York Post" hämisch. Selbst Bürgermeister Michael Bloomberg nannte Atkins "fett" und berichtete, das Dinner, das der ihm einmal serviert habe, sei "ungenießbar" gewesen.

"Lasst mich in Frieden trauern"

Atkins' Company dementierte schnell: Atkins habe 89 Kilogramm gewogen, "normal für sein Alter". Die Witwe gab derweil zur Debatte um den Tod ihres Mannes, der ihr 600 Millionen Dollar vermachte, nur eine knappe Erklärung ab und bat bei CNN-Talker Larry King: "Lasst Dr. Atkins in Frieden ruhen, lasst mich in Frieden trauern." Dann wurde es still um sie.

Sie verkaufte Atkins Nutritionals an zwei Investmentfirmen und legte ihre Ämter nieder. Sie verkaufte auch das gemeinsame Penthouse auf der Upper East Side, zog ins sonnige Palm Beach, behielt nur eine Zweitwohnung in New York. Seither widmet sich nur noch der Atkins Foundation, ihrer unabhängigen Privatstiftung zur Erforschung von Fettsucht und Diabetes.

"Business Week" krönte sie zu einer der "50 spendabelsten Philanthropen" der USA. Mit 41 Millionen Dollar finanziert sie derzeit 22 Studien, und auch der Rest ihres Vermögens soll eines Tages an die Stiftung gehen. So hofft sie, bald nicht nur "die Fettsucht-Epidemie" zu beenden, sondern vor allem "Bobbys Lebenswerk" zu sanktionieren. Die Foundation ist ihre letzte Geheimwaffe im Kalorien-Krieg.

Erzfeinde in der Food-Pyramide

Doch manche Forscher scheuen sich, Atkins-Gelder anzunehmen, "aus Angst, dass der Name von ihrer Arbeit ablenkt", wie Gary Foster, ein Diät-Spezialist der University of Pennsylvania, dem Fachmagazin "Chronicle of Philanthropy" sagte. "Was soll ich machen?", seufzt Atkins da nur. "Ich heiße nun mal so."

Atkins-Bücher in Washington: Steak ohne Fritten
Dabei geht der Krieg erst jetzt so richtig los. Die US-Regierung ist gerade dabei, ihre 13 Jahre alte "Food-Pyramide" zu aktualisieren, die amtliche Ernährungsempfehlung. Deren massives Fundament belegen zurzeit noch, als die "wichtigsten Nahrungsmittel", die alten Produkte der Atkins-Erzfeinde: Brot, Reis, Nudeln, Cerealien. "Wir brauchen eine massive PR-Kampagne", ahnt Atkins, "um die amerikanischen Essgewohnheiten zu ändern."

Auf einmal klingt sie matt. "Eigentlich bin ich's leid", murmelt sie. "Ich bin müde." Warum sie denn dann noch weitermache? Die Musketiere gucken verschreckt und rascheln mit ihren Papieren, doch da steht die Antwort diesmal nicht. "Ich hatte nicht gedacht, dass er so früh sterben würde", sagt Veronica Atkins nach kurzer Pause. "Ich vermisse ihn furchtbar."

Mittwoch, 16. Februar 2005

Crosby&Nash: The show must go on

Crosby & Nash
Leg dich gut wieder hin, altes Haus
Von Hans Zippert

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16. Februar 2005 Es geht wuchtig los mit „Military Madness”, einer Graham-Nash-Komposition aus dem Jahr 1971. „Wir beginnen jedes Konzert mit diesem Lied”, erklärt David Crosby, „damit ihr wißt, wir sind die besseren Amerikaner.” Mit so einer Bemerkung kann man auch noch das beschränkteste deutsche Publikum auf seine Seite ziehen, aber wenn jemand solche Platitüden aussprechen darf, dann diese beiden.


David Crosby und Graham Nash sind schon von Berufs wegen die besseren Amerikaner. Sie spielen seit 1968 zusammen, standen immer auf der richtigen Seite und haben für das Gute gekämpft: gegen Haß, Gewalt, Ausbeutung und für Liebe, Frieden und Wale. Das ist ein knallharter Job, und David Crosby mußte den Kampf mehrmals unterbrechen, wegen Drogenproblemen, Gefängnisaufenthalten und einer Lebertransplantation. Das Leben hat ihm stärker zugesetzt als seinem Partner, der erstaunlich frisch wirkt und dessen Stimme vor allem zu Anfang beinahe unverändert scheint, was bei fast vierzig Jahre alten Liedern kaum zu glauben ist.

Der Brite und der Hippie

Graham Nash, in Manchester geboren, sah vielleicht in seinem ganzen Leben nie englischer aus als heute, was einen reizvollen Gegensatz zu dem ewigen Hippie David Crosby bildet. Vor seiner Zusammenarbeit mit dem Amerikaner war er von 1961 bis 1967 Mitglied der „Hollies”, einer der unterschätztesten Popgruppen aller Zeiten. Damals erreichte Nash Höhen, die nie ein Mensch vor ihm erreicht hatte, heute kommt er immer noch erstaunlich weit.

Das Verblüffende an diesem Konzert ist, daß es vollkommen unpeinlich verläuft. Obwohl die alten Nummern den Schwerpunkt bilden, ist es kein Oldie-Abend. Statt dessen klingt das aktuelle Material fast am besten, weil es am authentischsten und auf die altersbedingt leicht reduzierten stimmlichen Fähigkeiten der Künstler zugeschnitten ist. An den meisten neuen Stücken hat James Raymond, Crosbys Sohn, mitgewirkt, das bewegende „Lay me down” schrieb er ganz allein. Damit scheint sichergestellt, daß dieser großartige Familienbetrieb auch in Zukunft weitergeführt werden kann.

Merkwürdige Assoziationen

Stilistisch ist alles aus einem Guß, es wirkt etwas schwermütiger als früher, die alte Leichtigkeit tritt naturgemäß in den Hintergrund; dafür hört es sich oft angriffslustiger an. Manchmal stellen sich merkwürdige Assoziationen ein. Bei „Immigration Man” muß man plötzlich an Joschka Fischer denken, was dem Stück aber nicht schaden kann.

Noch immer ist der Zusammenklang ihrer Stimmen ein außergewöhnliches Ereignis, was sie durch eine phantastische Interpretation des hymnischen „A critical Mass” unter Beweis stellen. Die neue Platte habe aus finanziellen Gründen in wenigen Tagen eingespielt werden müssen, erzählt Crosby. „Es lief wirklich sehr schnell, ich war nur für zwei Stunden beim Zahnarzt, und da hatten sie das nächste Stück komponiert und aufgenommen. Als ich wegging, existierte es noch nicht einmal.” Gemeint ist „Milky Way Tonight”, das zwar schnell komponiert wurde, aber trotzdem für die Ewigkeit geschrieben sein könnte.

Ungewöhnlich viele Raucher

Das größtenteils männliche Publikum ist mit den Künstlern gealtert und besteht aus ungewöhnlich vielen Rauchern, wie man in der Pause im Foyer bemerken kann. Neunzig Prozent der Anwesenden dürften sich die erste Platte von Crosby, Stills & Nash schon im Erscheinungsjahr 1969 auf Vinyl gekauft haben. Im Jahre 2005 halten ihre Frauen kleine Apparate in die Luft, mit denen man gleichzeitig telefonieren und fotografieren kann.

Als „Marrakesh Express” geschrieben wurde, waren Telefone noch aus Bakelit und durch eine Schnur mit der Wand verbunden; niemand wäre auf den Gedanken gekommen, im Konzertsaal damit zu fotografieren, so lange Kabel gab es ja auch gar nicht. Man fragt sich: Ist es möglich, analoge Künstler digital zu fotografieren? Außerdem merkt man hier, wie viele verschiedene Formen von Haarausfall es gibt. Beim Haarwuchs gibt es weniger Variationsmöglichkeiten. David Crosby singt dazu „Almost cut my Hair” und weist auf sein an den meisten Stellen immer noch sehr langes eigenes. Gegen Ende hat er das Kommando übernommen, seine Stimme wirkt mit jedem Stück kraftvoller, während Nash fast unmerklich tiefer rutscht.

Es wäre falsch zu sagen, wir hätten erlebt, was es heißt, in Würde zu altern - die Künstler sind erst dreiundsechzig Jahre alt und üben einfach ihr Handwerk aus, das sie hervorragend beherrschen. Sie beenden den Abend mit „Our House” und „Teach your children”. Obwohl man den Text schon länger nicht mehr gehört hat, kann man problemlos mitsingen, so funktionieren nur die wirklich guten, großen Kirchenlieder. Dann ist es leider vorbei. Für zweieinhalb Stunden schien die Welt wieder etwas einfacher. Die Bösen waren die Militärs, das Großkapital und die korrupten Politiker. Wenn man es genau überlegt, was ist eigentlich so falsch daran?


Text: F.A.Z., 16.02.2005, Nr. 39 / Seite 38
Bildmaterial: ddp

Sonntag, 13. Februar 2005

Valentine's Day

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Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, geliebter Führer!

When the partying has to stop

kim

Feb 10th 2005
From The Economist print edition

North Korea has announced that it is suspending its participation in talks on ending its nuclear stand-off with America. The Bush administration says this will only deepen Kim Jong Il’s isolation. The mercurial dictator clearly begs to differ

THE boss’s birthday is an obligatory big event in North Korea. Whether or not the reclusive Kim Jong Il shows up in person for his national shindig on February 16th, the fireworks have begun. North Korea’s announcement, not just that it has built nuclear weapons (it has said that before), but that it is suspending indefinitely its participation in six-party talks that America, China and others had been hoping would end its shady nuclear dealings, is an attempt to put the blame on the Bush administration for the nuclear impasse. But it is also a poser for China, which had been expecting to cajole, bribe and drag North Korea into more talks within weeks.

Pulling out of the talks will only deepen North Korea’s isolation, said Condoleezza Rice, America’s secretary of state. Mr Kim clearly calculates differently. Pressure had been building for him to sit down again, along with South Korea, Japan and Russia, and this time negotiate seriously. North Korea had yet to respond to an American proposal last June that would offer economic assistance and security guarantees, as North Korea has demanded, but only if Mr Kim agrees to the verifiable dismantling of both his nuclear programmes: the plutonium programme that had been frozen until two years ago under a 1994 deal with America, and the uranium-enrichment activity that America accuses him of carrying on in secret, and that led to the latest stand-off.

Instead of slapping down a counter-proposal of his own, Mr Kim has used a string of excuses—America’s presidential election (in which he rooted for George Bush’s opponent), waiting to see whether Mr Bush sounded “hostile” in his State of the Union address earlier this month (he didn’t). He blames his latest huff on Ms Rice, who recently lumped North Korea among the “outposts of tyranny”.

Until now, China, South Korea and Japan have all been happy to prop up Mr Kim with dollops of aid, so long as he refrained from doing rash things: testing a bomb, for example, or another of his far-flying missiles. South Korea has forged ahead with economic co-operation, including links across the otherwise heavily fortified border. But letting Mr Kim off the nuclear hook so easily had already started to look dangerous.

Tests by America’s Department of Energy have convinced American officials that North Korea may well have supplied the uranium hexafluoride gas—partly-processed uranium which can be spun in centrifuge machines to make enriched uranium for either civilian or military uses—that Libya turned over to inspectors a year ago when it abandoned its once secret nuclear-weapons programme. The evidence is not irrefutable, but the conclusion is also based on traces of plutonium found on the canisters concerned, as well as a third piece of evidence not so far made public. Earlier this month, America put its case to China, South Korea and Japan—possibly the real reason for Mr Kim’s latest tantrum. If the analysis is correct, it puts North Korea just one step away from one of the Bush administration’s red lines: the export of weapons-useable material itself.

Until recently, Chinese officials in particular had expressed scepticism that North Korea even had a uranium-enrichment programme. They and others have wanted America to focus on North Korea’s known plutonium-making. America accepts that North Korea has probably finished extracting the plutonium (enough for half a dozen bombs) from spent fuel-rods previously stored under the 1994 deal near its nuclear reactor at Yongbyon; it will soon be able to unload more rods from the reactor for reprocessing.

But the idea that America should set aside its uranium concerns is given a bipartisan rebuttal in the current issue of Foreign Affairs by Robert Gallucci, who negotiated the 1994 plutonium deal with North Korea under the Clinton administration, and Mitchell Reiss, the just departed head of policy planning in the Bush administration’s State Department. Turning a blind eye to evidence of North Korea’s enrichment work would, they argue, leave Mr Kim with a covert supply of fissile material, whether for bomb making or for export, including to terrorist groups.

So far, despite its tough line, says Gary Samore, of the London-based International Institute for Strategic Studies, America has in effect acquiesced in North Korea’s becoming a covert nuclear power. South Korea recently admitted for the first time that it suspects the North of possessing nuclear weapons too.

But that is only part of the story. Its exports of missiles and imports of illicit nuclear goods are being disrupted on land, at sea and in the air under the American-led proliferation security initiative, which Russia has formally joined and which even China has said a few kind words about. Its collaborators, including Iran and Syria, are coming under increasing scrutiny. Its narcotics and counterfeiting activities are being squeezed too. Meanwhile, there have been reports of political intrigues and even some limited anti-regime protests. Mr Kim may soon pick one of his sons as the next dynast-designate, in part to quell rumours that he is losing his grip.

Lashing out under pressure is a Kim trademark. So is demanding hefty bribes, from China and others, for better behaviour. Mr Kim may yet change his mind again about the nuclear talks. But expect him to take his time about it.



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Samstag, 12. Februar 2005

Interesse und Erkenntnis

Der folgende Artikel bezieht sich auf den kulinarischen Bereich des menschlichen Lebens, ist aber nach Ansicht des JUNGEN auf ALLE Lebensbereiche vorzüglich anwendbar.......


Interesse und Erkenntnis
Versuch einer Stufentheorie der kulinarischen Emanzipation


Auf seiten der Esser befindet sich die Gourmandise im Moment in einer Phase des Misch-Verständnisses. Während sich die kreative Küche in dem vergleichsweise minimalen Zeitraum von rund zwanzig Jahren enorm entwickelt hat, verläuft dieser Prozeß auf der anderen Seite des Herdes eher verlangsamt. Die Folge ist eine breite Fächerung des Angebotes von geradezu historischer Haute Cuisine bis hin zu ästhetisch wie kochtechnisch vollständig befremdenden Angeboten. Dabei wird erstmals in der Geschichte deutlich, welchen Umfang die Gourmandise haben kann und welche vielfältigen Kenntnisse und Erfahrungen zu ihrer optimalen Nutzung nötig sind. Auf dem Weg vom überaus subjektiv gefärbten Konsumenten alter Schule zu einem adäquaten Verständnis aller Küchenformen gibt es mittlerweile viel zu tun. Hier also der Versuch einer Beschreibung des Weges zum Gourmet.


Am Anfang steht nicht die Freude am Lieblingsessen, sondern die Faszination für etwas Neues. Das Lieblingsessen ruft nach Wiederholung, die den Redundanzesser, der immer das gleiche will, kaum weiterbringt als zum mehr oder weniger aggressiven Vergleich und zu wahrscheinlicher Ablehnung der kulinarischen "Konkurrenz". Zudem deutet die Entstehung des Lieblingsessens eher auf ein zur individuellen Sozialisation unreflektiert "passendes" Muster als auf einen entwickelten Prozeß hin. Die Faszination für etwas Neues dagegen setzt eine gewisse Offenheit voraus, aus der eigentlich schon alles folgt. Da zu den verinnerlichten kulinarischen Wertvorstellungen der Wunsch nach Abwechslung gehört, erscheint die Relativierung, Entwicklung und Verallgemeinerung dieser Kategorien möglich, wenn nicht sogar erwünscht. In dieser Phase hat zum Beispiel der unkompliziert-interessierte "Urlaubsesser" deutliche Vorteile.

Der weitere Weg führt zur Entwicklung der vertikalen Vergleichsmöglichkeit. Hier spielt mehr die Erkenntnis eine Rolle, daß es nicht nur allerlei Neues, sondern innerhalb der Varianten eines bestimmten Produktes enorme qualitative Unterschiede gibt. Die Einsicht, daß das unpräzise verbrutzelte Grillhähnchen von einer getrüffelten Bresse-Poularde Welten entfernt ist, zwingt zur Übertragung auf andere Produkte und legt damit den Grundstock für ein objektivierbares (und damit nicht zuletzt auch kommunizierbares) System, das sozialisationsbedingte Defizite ausgleichen kann. Auch diese Stufe der Entwicklung wird noch von einem großen Ausmaß an unmittelbarer Faszination geprägt sein. Im nächsten Schritt reift die Erkenntnis, daß hinter der faszinierend erlebten Oberfläche eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen allen Produkten besteht. Qualität wird nicht mehr allein an die klassischen Luxusprodukte gekoppelt, sondern erscheint als ein Merkmal, das auch bisher überhaupt nicht als beachtenswert registrierte Dinge haben können.

Hier findet sich etwa die Einsicht, daß es hervorragende Kartoffelsorten gibt und daß die Frische eines Fisches oder die richtige Reife eines Stückes Fleisch oft wichtiger ist als die Zugehörigkeit zur Kategorie der Luxusprodukte. Diese Fähigkeit zum Rückbezug der Erkenntnisse über das klassische Spitzenprodukt auf "einfache" Produkte gilt im Moment schon weitgehend als Erkennungszeichen des entwickelten Gourmets - ist dies aber in der Praxis bei weitem noch nicht. Denn es tummeln sich auf dieser Stufe auch Menschen, die die genannte Rückkopplung nicht vollzogen haben, sondern unter Umgehung der klassischen Spitzenprodukte nur ein akzeptiertes Betätigungsfeld für weitgehend redundante Bedürfnisse suchen. Andererseits zeigt sich die Neigung, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben und der strukturellen Einsicht in die Parallelität von Spitzenprodukten nicht mehr als das Zeremoniell einer Ersatzhandlung abzugewinnen. Ob der eine seine foie gras verklärt und der andere seine geschmorte Schweinshaxe an deren Stelle setzt, ist prinzipiell kein Unterschied. Anders gesagt: Der Purismus ist nie eine universell entwickelte Form, sondern ermöglicht bestenfalls eine Akkumulation des Besonderen im Detail.

Auf dem Weg zu einem im reichsten Wortsinn kulinarischen Verhalten darf man vor allem den Begriff der Emanzipation nicht aus dem Auge verlieren. Man könnte der Meinung sein, daß diese darin bestehe, undogmatisch zwischen weltberühmter Spitzenküche und einfachem italienischen Restaurant auf dem Lande zu wechseln. Es wird dabei übersehen, daß, wer es sich in seiner redundanten Wunschwelt gutgehen läßt, meist nur dazulernt, was zu dieser Wunschwelt paßt, und dies in der Regel unter Umgehung sämtlicher individueller Sozialisationsdefizite, also durch phantasielose Beachtung aller (Eß-)Tabus. Die also gesteuerte Ausweitung des akzeptierten Spektrums verläuft psychisch in einer Wohlfühlzone, bei der gerade in der Realität der Restaurants nur ganz selten mit unliebsamen Überraschungen gerechnet werden muß.

Wirkliche Offenheit gegenüber Geschmack und Textur - man denke an das ganze Spektrum zwischen Auster, Speckschichten und Innereien - erfordert bei fast allen Menschen eine Überwindung dieser individuellen, durch eine spezifische Sozialisation erworbenen Tabus. Die Wichtigkeit dieser Stufe liegt vor allem darin, daß die tabuisierten Elemente eben nicht beliebig ersetzbar sind, sondern selbstverständlicher Teil des Spektrums. Man kann die Farben einer Landschaft nicht wirklich sehen, wenn man einige Filter vorschaltet. Erst die Überwindung dieser Defizite befreit den Gourmet endgültig und versetzt ihn in die Lage, wirklich komplexe Erfahrungen zu machen. Wir können sie mit Fug und Recht kulinarische Emanzipation nennen und müssen feststellen, daß diese heute noch nicht so recht in Reichweite ist, wenn sie denn nicht ohnehin noch den Rang einer Utopie hat.

Ein Satz wie "Was wollt ihr die Freiheit, wir haben doch die Diktatur!" summiert mögliche Denkstrukturen rund um die kulinarische Emanzipation vermutlich am besten. Erst nach der Überwindung der verzwickten psychischen Sperren, die im übrigen ein echtes "Zivilisationsprodukt" des - anthropologisch gesehen - "Allesfressers" Mensch sind, ist der Weg frei für die Erarbeitung des kompletten Sensoriums des Menschen. Erstmals wird er seine Werkzeuge vollständig benutzen können und über ein Gebäude an Registrierungen, wie wir es etwa im sozialen Bereich in einem sehr viel größeren Umfang besitzen, ein spektrales Erleben mit einer um ein vielfaches gesteigerten Intensität realisieren. Erst in der adäquaten Wahrnehmung kommen die adäquaten Kreationen zu sich. JÜRGEN DOLLASE


Text: F.A.Z., 12.02.2005, Nr. 36 / Seite 34

Die dunkle Seite der Börse: Das Schwarzbuch der SdK

Schwarzbuch Börse 2004
„Irgendetwas müssen wir mit dem Geld ja machen”


11. Februar 2005 Was die Börse spannend macht, macht sie zugleich riskant: Nichts an der Börse ist spannender und kostenträchtiger zugleich als der menschliche Faktor. Versagen, Gier, kriminelle Energie und viel Geld - die richtigen Zutaten für einen Börsenkrimi.


Oder auch für das „Schwarzbuch Börse”, das, von der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) herausgegeben, nun druckfrisch auf den Tischen der Redaktionen und Rechtsanwaltskanzleien liegt.

Ixos schwarzbuchnotorisch

Viele alte Bekannte trifft man im Schwarzbuch, zum Beispiel Articon-Integralis, dem die SdK bereits im Schwarzbuch 2003 eine ganze Seite widmete: Wenn das Unternehmen so weitermache, wäre in zwei Jahren die Kasse aufgebraucht, hätten die Vorstände ausgesorgt und wären die Aktionäre leer ausgegangen, lautet das Fazit der Aktionärsschützer.

Ebenfalls schwarzbuchnotorisch sind die Führungskräfte von Ixos, die 2002 eine Hauptversammlung wiederholen mußten, vor einer Gewinnwarnung große Aktienpositionen verkauften und bereits testierte Jahresabschlüsse wegen Betrugsfällen einzelner Mitarbeiter wieder ändern mußten - „inkompetent und an Aktionärsinteressen desinteressiert” lautet der Eintrag ins Schwarzbuch 2004.

Träume vom Erfolg beerdigt

Aber auch Erfolg kann zum Eintrag ins Schwarzbuch Börse führen - zum Beispiel der Garant Schuh, die angeblich wegen einer guten Auftragslage Konkurs anmelden mußte. Die angeschlossenen Fachhändler hätten zuviel Ware geordert, weshalb man in Liquiditätsprobleme geraten sei. Ähnlich erging es GfN: Das Unternehmen konnte sich trotz eines Großauftrags nicht mehr retten - man bekam nicht genügend Geld, um den Auftrag anzunehmen.

Nicht nur Erfolg, auch Träume vom Erfolg werden im Schwarzbuch beerdigt, zum Beispiel der Traum von Lion Bioscience, das „SAP der Biotechnologie” zu werden. Heute ist Lion in den Augen der SdK eine „kleine Klitsche mit einer Handvoll Kunden”. Aber was wäre die Börse ohne Gier, vor allem die Gier der Vorstände? Selbigen Vorwurf sehen die Vorstände der Beru AG vermutlich gelassen: Für erhebliche „Mehrarbeit” im Rahmen von Veräußerungsgeschäften genehmigte man sich 603.000 Euro Sonderzahlungen.

Dilettantismus und Inkompetenz

Und wo Gier ist, treiben sich zumeist kriminelle Energien in der Nachbarschaft herum, wenn auch nicht immer so exzessiv wie im Falle der Realtos AG, einem einstmals leerem Börsenmantel, der zumindest zeitweise mit Leben gefüllt wurde. Nach anfänglichem Kursgewinn allerdings wurden betrügerische Machenschaften und Manipulationen ruchbar. Den Vorstandschef hätte eine mehrjährige Haftstrafe erwartet, der er sich durch Selbstmord entzog.

Aber es muß nicht verbrecherische Energie sein, die den Aktionären das Portfolio atomisieren. Dilettantismus und Inkompetenz tun es auch, so beim Windenergieanbieter Nordex AG, wo laut SdK ein dilettantisches Management tätig war. Überhaupt meinte es das Jahr nicht gut mit alternativen Energien: Der Windkraftanbieter Umweltkontor sah zwar die Konsolidierungswelle in seinem Geschäftsfeld korrekt voraus, was er aber nicht voraussah, war, daß ihn das Biodiesel-Engagement, das er anstrebte, in den Ruin treiben sollte. Dabei war es doch so praktisch: Die Unternehmensgruppe, die man zu diesem Zweck übernahm, war zuvor im Privatbesitz der damaligen Vorstände von Umweltkontor gewesen, gegen die jetzt der Staatsanwalt ermittelt.

„Legende wie den Yeti”

Nicht nur unübersichtlich, auch befremdlich mag der ehrenwerte Dr. Kahrmann von der CBB AG dem Staatsanwalt vorkommen: Der legte auf einer Hauptversammlung zwar keine Bilanz vor, rief dafür aber einen Aktionär mit „Halten Sie die Schnauze” zur Ordnung, legte auf zähes Nachfragen dann eine Excel-Tabelle vor und bezeichnete die 400 Millionen Euro, die an seine Gesellschaft geflossen sein sollen, als „Legende wie den Yeti” - er habe das Geld nie erhalten. Jetzt soll die Staatsanwaltschaft untersuchen, ob der Yeti mit dem Geld durchgebrannt ist.

Auch für die Banken gab es noch Platz im Schwarzbuch, so für die Emissionsbank Morgan Stanley, die seit 1998 acht Neuemissionen betreute. Sieben davon notieren im Schnitt mit 60 Prozent im Minus. Die Ankündigung, daß Morgan Stanley beim Börsengang von Premiere eine wesentliche Rolle spielen soll, müsse der Anleger als Drohung empfinden, lautet das Fazit der SdK. Dafür gab es die IPO-Zitrone des Jahres. Ein schwer zu erringender Titel, sollte man meinen: Bei insgesamt 439 Börsengängen seit 1997 konnte die SdK nur in acht Prozent aller Fälle Kursgewinne zählen, jeder vierte Börsengang endete mit Totalverlust, 77 Prozent der Emissionen erbrachten ihren Anlegern mehr als 50 Prozent Verlust.

Nur die Spitze des Eisberges

Zum Bankräuber des Jahres - für besondere „Abzockerei, Dreistigkeit und Vorteilnahme zum Nachteil von Aktionären und Anlegern” - ernennt die SdK J. P. Morgan Chase. Unter maßgeblicher Führung der Bank habe der Kabelnetzanbieter Primacom einen Kredit aufgenommen, der nun mit 20 Prozent jährlichen Belastungen zu Buche schlägt.

Gier, Betrug, Inkompetenz - und doch nur die Spitze des Eisbergs: Borussia Dortmund, Karstadt-Quelle, das Optionsprogramm bei Infineon, die Toll-Collect-Blamage von Daimler-Chrysler und der Deutschen Telekom - auch die bekannteren Unternehmen kommen zu ihrem Recht im Schwarzbuch. Für die Aktionäre, deren Geld geopfert wurde, bleibt wohl nur noch das Fazit des Vorstands von IPC Arctech als Trost: „Irgend etwas müssen wir mit dem Geld ja machen.”


Text: hbe. / F.A.Z., 12.02.2005, Nr. 36 / Seite 19

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