Samstag, 12. Februar 2005

Interesse und Erkenntnis

Der folgende Artikel bezieht sich auf den kulinarischen Bereich des menschlichen Lebens, ist aber nach Ansicht des JUNGEN auf ALLE Lebensbereiche vorzüglich anwendbar.......


Interesse und Erkenntnis
Versuch einer Stufentheorie der kulinarischen Emanzipation


Auf seiten der Esser befindet sich die Gourmandise im Moment in einer Phase des Misch-Verständnisses. Während sich die kreative Küche in dem vergleichsweise minimalen Zeitraum von rund zwanzig Jahren enorm entwickelt hat, verläuft dieser Prozeß auf der anderen Seite des Herdes eher verlangsamt. Die Folge ist eine breite Fächerung des Angebotes von geradezu historischer Haute Cuisine bis hin zu ästhetisch wie kochtechnisch vollständig befremdenden Angeboten. Dabei wird erstmals in der Geschichte deutlich, welchen Umfang die Gourmandise haben kann und welche vielfältigen Kenntnisse und Erfahrungen zu ihrer optimalen Nutzung nötig sind. Auf dem Weg vom überaus subjektiv gefärbten Konsumenten alter Schule zu einem adäquaten Verständnis aller Küchenformen gibt es mittlerweile viel zu tun. Hier also der Versuch einer Beschreibung des Weges zum Gourmet.


Am Anfang steht nicht die Freude am Lieblingsessen, sondern die Faszination für etwas Neues. Das Lieblingsessen ruft nach Wiederholung, die den Redundanzesser, der immer das gleiche will, kaum weiterbringt als zum mehr oder weniger aggressiven Vergleich und zu wahrscheinlicher Ablehnung der kulinarischen "Konkurrenz". Zudem deutet die Entstehung des Lieblingsessens eher auf ein zur individuellen Sozialisation unreflektiert "passendes" Muster als auf einen entwickelten Prozeß hin. Die Faszination für etwas Neues dagegen setzt eine gewisse Offenheit voraus, aus der eigentlich schon alles folgt. Da zu den verinnerlichten kulinarischen Wertvorstellungen der Wunsch nach Abwechslung gehört, erscheint die Relativierung, Entwicklung und Verallgemeinerung dieser Kategorien möglich, wenn nicht sogar erwünscht. In dieser Phase hat zum Beispiel der unkompliziert-interessierte "Urlaubsesser" deutliche Vorteile.

Der weitere Weg führt zur Entwicklung der vertikalen Vergleichsmöglichkeit. Hier spielt mehr die Erkenntnis eine Rolle, daß es nicht nur allerlei Neues, sondern innerhalb der Varianten eines bestimmten Produktes enorme qualitative Unterschiede gibt. Die Einsicht, daß das unpräzise verbrutzelte Grillhähnchen von einer getrüffelten Bresse-Poularde Welten entfernt ist, zwingt zur Übertragung auf andere Produkte und legt damit den Grundstock für ein objektivierbares (und damit nicht zuletzt auch kommunizierbares) System, das sozialisationsbedingte Defizite ausgleichen kann. Auch diese Stufe der Entwicklung wird noch von einem großen Ausmaß an unmittelbarer Faszination geprägt sein. Im nächsten Schritt reift die Erkenntnis, daß hinter der faszinierend erlebten Oberfläche eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen allen Produkten besteht. Qualität wird nicht mehr allein an die klassischen Luxusprodukte gekoppelt, sondern erscheint als ein Merkmal, das auch bisher überhaupt nicht als beachtenswert registrierte Dinge haben können.

Hier findet sich etwa die Einsicht, daß es hervorragende Kartoffelsorten gibt und daß die Frische eines Fisches oder die richtige Reife eines Stückes Fleisch oft wichtiger ist als die Zugehörigkeit zur Kategorie der Luxusprodukte. Diese Fähigkeit zum Rückbezug der Erkenntnisse über das klassische Spitzenprodukt auf "einfache" Produkte gilt im Moment schon weitgehend als Erkennungszeichen des entwickelten Gourmets - ist dies aber in der Praxis bei weitem noch nicht. Denn es tummeln sich auf dieser Stufe auch Menschen, die die genannte Rückkopplung nicht vollzogen haben, sondern unter Umgehung der klassischen Spitzenprodukte nur ein akzeptiertes Betätigungsfeld für weitgehend redundante Bedürfnisse suchen. Andererseits zeigt sich die Neigung, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben und der strukturellen Einsicht in die Parallelität von Spitzenprodukten nicht mehr als das Zeremoniell einer Ersatzhandlung abzugewinnen. Ob der eine seine foie gras verklärt und der andere seine geschmorte Schweinshaxe an deren Stelle setzt, ist prinzipiell kein Unterschied. Anders gesagt: Der Purismus ist nie eine universell entwickelte Form, sondern ermöglicht bestenfalls eine Akkumulation des Besonderen im Detail.

Auf dem Weg zu einem im reichsten Wortsinn kulinarischen Verhalten darf man vor allem den Begriff der Emanzipation nicht aus dem Auge verlieren. Man könnte der Meinung sein, daß diese darin bestehe, undogmatisch zwischen weltberühmter Spitzenküche und einfachem italienischen Restaurant auf dem Lande zu wechseln. Es wird dabei übersehen, daß, wer es sich in seiner redundanten Wunschwelt gutgehen läßt, meist nur dazulernt, was zu dieser Wunschwelt paßt, und dies in der Regel unter Umgehung sämtlicher individueller Sozialisationsdefizite, also durch phantasielose Beachtung aller (Eß-)Tabus. Die also gesteuerte Ausweitung des akzeptierten Spektrums verläuft psychisch in einer Wohlfühlzone, bei der gerade in der Realität der Restaurants nur ganz selten mit unliebsamen Überraschungen gerechnet werden muß.

Wirkliche Offenheit gegenüber Geschmack und Textur - man denke an das ganze Spektrum zwischen Auster, Speckschichten und Innereien - erfordert bei fast allen Menschen eine Überwindung dieser individuellen, durch eine spezifische Sozialisation erworbenen Tabus. Die Wichtigkeit dieser Stufe liegt vor allem darin, daß die tabuisierten Elemente eben nicht beliebig ersetzbar sind, sondern selbstverständlicher Teil des Spektrums. Man kann die Farben einer Landschaft nicht wirklich sehen, wenn man einige Filter vorschaltet. Erst die Überwindung dieser Defizite befreit den Gourmet endgültig und versetzt ihn in die Lage, wirklich komplexe Erfahrungen zu machen. Wir können sie mit Fug und Recht kulinarische Emanzipation nennen und müssen feststellen, daß diese heute noch nicht so recht in Reichweite ist, wenn sie denn nicht ohnehin noch den Rang einer Utopie hat.

Ein Satz wie "Was wollt ihr die Freiheit, wir haben doch die Diktatur!" summiert mögliche Denkstrukturen rund um die kulinarische Emanzipation vermutlich am besten. Erst nach der Überwindung der verzwickten psychischen Sperren, die im übrigen ein echtes "Zivilisationsprodukt" des - anthropologisch gesehen - "Allesfressers" Mensch sind, ist der Weg frei für die Erarbeitung des kompletten Sensoriums des Menschen. Erstmals wird er seine Werkzeuge vollständig benutzen können und über ein Gebäude an Registrierungen, wie wir es etwa im sozialen Bereich in einem sehr viel größeren Umfang besitzen, ein spektrales Erleben mit einer um ein vielfaches gesteigerten Intensität realisieren. Erst in der adäquaten Wahrnehmung kommen die adäquaten Kreationen zu sich. JÜRGEN DOLLASE


Text: F.A.Z., 12.02.2005, Nr. 36 / Seite 34

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