Mittwoch, 16. Februar 2005

An Politiker aller Länder: Prosperität könnte so einfach erreicht werden....

Leitartikel Wirtschaft
Aus Schaden klüger
Von Michael Stabenow, Brüssel


Im Kreis der europäischen Defizitsünder fehlt ein Land, das einst dort Stammgast war. Das war zu Zeiten, als vom Stabilitäts- und Wachstumspakt noch nicht die Rede war. Daß Belgien nun im fünften Jahr nacheinander einen nahezu ausgeglichenen Staatshaushalt vorweist, ist vor allem ein Erfolg der strengen Vorgaben für die Aufnahme in den Kreis der Euro-Länder. Beflügelt von dem Ziel, 1999 zu den Gründungsmitgliedern der Währungsunion zu gehören, gelang es Belgien vor zwei Jahrzehnten, den Teufelskreis des Schuldenmachens durch radikale Ausgabenkürzungen zu durchbrechen. Bis 2004 dauerte es, den öffentlichen Schuldenstand, der 1993 fast 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach, wenigstens unter hundert Prozent zu drücken. Nach den Spielregeln vom Maastricht, zu denen sich die belgische Regierung nach wie vor deutlicher bekennt als andere, sind nur sechzig Prozent erlaubt.


Das erklärt, warum die seit sechs Jahren regierenden Liberalen und Sozialdemokraten keine andere Wahl haben, als an einer Politik der weiteren Sanierung der Staatsfinanzen festzuhalten. Ob die Koalition aus Einsicht oder Not dieser Linie folgt, ist zweitrangig. Der Erfolg gibt ihr recht. Das Königreich der Flamen und Wallonen weist zwar kein spektakuläres Wirtschaftswachstum auf, die Zuwachsraten liegen aber höher als bei den Nachbarn Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. 2003 legte die Wirtschaft um 1,3, im vergangenen Jahr um 2,5 Prozent zu. Die EU-Prognosen lassen allerdings befürchten, daß der mühsam erkämpfte Vorsprung wieder schwinden könnte und Belgien mit Zuwächsen um zwei Prozent in den kommenden Jahren ins europäische Mittelfeld abrutschen könnte.

Daher müht sich auch Belgien um Reformen des Steuer- und Sozialsystems. Eher konventionell ist die Steuerreform, die im nächsten Jahr mit einer Entlastung für Unternehmen und Arbeitnehmer in Höhe von 1,3 Prozent des BIP ihre volle Wirkung entfalten dürfte. Belgien setzt aber auch auf andere Wege. So entfallen seit Jahresbeginn bei besonders einkommensschwachen Personen die Eigenbeiträge zur Sozialversicherung. Dies soll den Anreiz Langzeitarbeitsloser, die in Belgien immer noch vergleichsweise großzügig alimentiert werden, zur Rückkehr ins Erwerbsleben steigern. Ebenfalls seit Jahresbeginn läßt sich die Kinderbetreuung steuerlich besser als bisher absetzen. Von Oktober an entfallen zudem für Forscher, von denen man sich die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit erhofft, in beträchtlichem Maß Sozialabgaben.

Trotz dieser ermutigenden Zeichen kommt Belgien, wie die gerade von der EU-Kommission vorgelegte Bewertung seines Arbeitsmarkts belegt, nur schleppend voran. Dies gilt besonders für die Wiedereingliederung von Arbeitnehmern, die älter als 54 Jahre sind. Von diesen ist nur ein Viertel erwerbstätig. Umfänglichen Vorruhestandsregelungen stehen zu wenige Weiterbildungsmöglichkeiten für diese Zielgruppe gegenüber. Auch bei der Förderung schlechter qualifizierter Menschen tut sich Belgien schwer.

Ungewiß ist, ob der Plan des liberalen Regierungschefs Guy Verhofstadt, bis zum Sommer mit den Sozialpartnern eine Rahmenvereinbarung zur beruflichen Wiedereingliederung älterer Menschen auszuhandeln, aufgehen wird. Verhofstadt steht mit der leichtsinnigen Ankündigung im Wort, bis Mitte 2007 in Belgien 200000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Wirklichkeit zeigt, wie riskant solche Zahlenspiele sind. Die Arbeitslosenzahl steigt und nähert sich der Marke von 600000, das sind rund acht Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Dennoch liegt die Arbeitslosenrate damit um fast einen Prozentpunkt unter dem Schnitt des Euro-Raums.

Daß die Sozialpartnerschaft trotz der in Wallonien traditionell großen Streikbereitschaft funktioniert, zeigt eine von Gewerkschaften und Arbeitgebern der Privatwirtschaft ausgehandelte Tarifvereinbarung, die den Anstieg der Löhne und Gehälter in diesem und im kommenden Jahr auf insgesamt 4,5 Prozent begrenzt. Dies mag hoch erscheinen. Berücksichtigt man jedoch einen voraussichtlichen Preisauftrieb um 3,3 Prozent und zusätzliche Einschränkungen, bliebe für Arbeiter ein Aufschlag um 1,2 Prozent.

Die Sozialpartner verweisen darauf, daß die Produktivitätszuwächse in Belgien höher als in den meisten anderen EU-Ländern ausfallen. 2004 gab es nach einer Studie eines amerikanischen Forschungsinstituts einen Zuwachs um 2,2 Prozent. Damit lag Belgien klar über dem Mittelwert von 1,3 Prozent für die bisherigen EU-Länder. Doch verdecken die Zahlen strukturelle Schwächen. Wegen des überhöhten Abgaben- und Steuerniveaus mußten viele belgische Unternehmen schließen - mit der rechnerischen Folge, daß sich die durchschnittliche Produktivität bestehender Betriebe erhöhte.

Steigende Arbeitslosigkeit und eine auf unter 60 Prozent abgesunkene Beschäftigungsquote sollten Regierung und Sozialpartnern eine Warnung sein. Für Verhofstadt gibt es keinen Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen, zumal das Land gerade ein weiteres Mal von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden droht. Eine für Ausländer kaum nachvollziehbare Spielart des Sprachenstreits gefährdet die Brüsseler Regierung. Es geht darum, ob die zweisprachige Hauptstadt und die vor ihren Toren gelegenen flämischen Umlandgemeinden weiter einen gemeinsamen Wahl- und Gerichtsbezirk bilden dürfen. Der seit Jahren schwelende Streit zwischen Niederländisch- und Französischsprachigen bringt die Koalition in Bedrängnis. Unter dem Druck der in Umfragen zur stärksten politischen Kraft Flanderns aufgestiegenen fremdenfeindlichen Oppositionspartei "Vlaams Belang" verhärten sich die Positionen. Eine Regierungskrise aber kann sich die politische Führung des Landes jetzt am allerwenigsten erlauben.



Text: F.A.Z., 16.02.2005, Nr. 39 / Seite 11

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